Kritik an der mangelnde Objektivität der Medienberichte über den sogenannten "Muslim Rage"

Selektive Blicke, verzerrte Relationen

Mega Reif, US-Politologin, kritisiert auf ihrer Website die mangelnde Objektivität der Medienberichte über die geografische Reichweite der sogenannten „Muslim Rage“ und warnt vor den „gefährlichen Konsequenzen dieser „maßlosen Übertreibung“.
Hier ein Auszug:

Medienberichte über die Aufstände im Nahen Osten versuchen hauptsächlich, die Menge der Teilnehmer oder den anteiligen Prozentsatz der Bevölkerung abzuschätzen. Sie beschreiben die Reaktionen auf den Anti-Islam-Film Inno cence of Muslims als „Tage des Zorns“ und als einen Sturm, der durch fast ein Viertel der Weltbevölkerung fege.

Ein einfacher Vergleich der Menschenmengen, die sich in den frühen Tagen des Arabischen Frühlings 2010 und 2011 im Nahen Osten und in Nordafrika versammelten, zeigt, dass diese erheblich größer waren als die, die sich in den vergangenen Tagen formiert haben, mit Ausnahme der Ausschreitungen in Jordanien, im Sudan, in Kuwait und Qatar.

Der Schwerpunkt der derzeitigen Berichterstattung der Reporter, Experten und Nachrichtenagenturen hingegen will uns glauben machen, dass diese Unruhen weitaus größer und ernster zu nehmen sind als die der arabischen Aufstände.

Es ist auch interessant zu beobachten, dass die Medienbilder vom Tahrir-Platz im ersten Halbjahr 2011 im Weitwinkelformat präsentiert wurden, während die Bilder der gegenwärtigen Proteste rund um kleinere, gewalttätige Gruppen zusammengeschnitten wurden und damit den Eindruck erwecken, die Menschenmengen seien groß und bedrohlich. Das kann man selbst einfach nachprüfen, indem man eine Google-Bildersuche nach „Protest Arabischer Frühling“ durchführt und die Ergebnisse mit der Google- Bildersuche „Protest Muslim“ vergleicht. Die Suche sollte dabei auf einen Zeitraum zwischen dem 10. und dem 16. September 2012 beschränkt werden.

Da die USA das Ziel dieser Wut sind, ist dieser unverhältnismäßige Schwerpunkt nicht überraschend, aber er ignoriert die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Muslime derzeit weder gegen den Film noch die US-Politik, noch die amerikanischen Werte protestiert. Darüber hinaus ist die Ungläubigkeit, mit denen die Medien und Kommentatoren angesichts der laufenden Drohnenangriffe auf diesen Ausdruck antiamerikanischer Stimmungsmache reagieren, ein Punkt, der das amerikanische Image in der Region weiter untergräbt. Dabei ist die lange Geschichte amerikanischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Länder noch nicht einmal erwähnt.

Muslime werden Amerikaner zunehmend als naiv, wenn nicht gar heuchlerisch wahrnehmen, wenn wir weiter glauben, dass die selektive Unterstützung der libyschen Opposition und einiger anderer Pro-Demokratie-Bewegungen uns zum neuen Helden der Freiheit macht.

Auch im Hinblick auf die Angriffe des 11. September 2001 hatte Amerika die Sympathie vieler Muslime rund um den Globus, als Botschafter Stevens und seine Kollegen am 11. September 2012 ermordet wurden. Doch im Zuge der sensationsheischenden, naiven und übertriebenen öffentlichen Reaktionen auf die Proteste gegen den Anti-Islam-Film hat vieles zur Distanzierung der pro-demokratisch eingestellten Reformer der arabischen Revolution beigetragen, die wir eigentlich unterstützen wollten. (DER STANDARD, 22.9.2012)

Die Autorin dissertiert an der University of Michigan zum Thema Demokratisierung und politische Gewalt in Nahost; Übersetzung: Kerstin Ludwig für das Online-Magazin „Carta“, wo auch die vollständige Fassung des Textes samt Zahlenmaterial nachzulesen ist.

http://derstandard.at/1347493320309/Selektive-Blicke-verzerrte-Relationen

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