*Künstliche Fieberschübe, echter Hass*

*Die Panik angesichts der BDS-Bewegung lenkt uns von der wirklich
antisemitischen Bedrohung durch Neonazis ab*

Von Barry Trachtenberg /Jewish
Voice for Peace

Die Diskussion über die BDS-Bewegung hat im zurückliegenden Sommer
erhebliche Panik, ja geradezu Fieberschübe in Deutschland ausgelöst –
„BDS“ steht für Boykott, Divestment und Sanktionen gegen Israel, als
Kritik an dessen Besatzungspolitik. Der Deutsche Bundestag nahm im Mai
einen Antrag an, die BDS-Bewegung als im Kern antisemitisch zu verurteilen.

Im Juni sah sich Peter Schäfer, der Direktor des Jüdischen Museums in
Berlin, zum Rücktritt gezwungen, weil er zugelassen hatte, dass das
Museum auf Twitter einen Artikel aus der taz geteilt hatte. Darin ging
es um einen Brief von 240 jüdischen und israelischen Akademikern an den
Bundestag, in dem die Wissenschaftler sich gegen dessen BDS-kritische
Entschließung ausgesprochen hatten. Sie argumentierten, dass es
historisch und faktisch falsch sei, BDS mit Antisemitismus
gleichzusetzen. Als der /Spiegel/ im Juli über das Zustandekommen der
Bundestagsresolution recherchierte und berichtete, dass ihrer
Verabschiedung eine intensive Lobbyarbeit der beiden proisraelischen
Gruppen „WerteInitiative“ und „Nahost Friedensforum“, kurz: Naffo,
vorausgegangen war, wurde dies in jüdischen Publikationen und von
deutsch-jüdischen Stimmen aufgegriffen und als antisemitisch kritisiert.

Auch in den USA arbeitet man sich an BDS ab – und reagiert empfindlich
auf alles, was auch nur im Entferntesten als Attacke auf das jüdische
Volk gesehen werden könnte. Anfang des Sommers hatten bereits 27 der 50
Bundesstaaten Gesetze gegen BDS verabschiedet. Als die
Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez aus New York im Juni die
entsetzlichen Haftzentren für asylsuchende Migranten an der Südgrenze
der USA als ­„Konzentrationslager“ bezeichnete, blies ihr ein Sturm der
Entrüstung entgegen. Sie habe den Holocaust verharmlost und die Gefühle
des jüdischen Volkes verletzt. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum warf ihr
vor, „Opfer des Völkermords zu beleidigen“, während die Anti-Defamation
League rügte, dass sie Vergleiche mit dem Holocaust ziehe.

Ungewöhnlich war, dass das Holocaust-Gedenkmuseum in Washington (USHMM)
noch darüber hinaus ging und in einer Erklärung alle Vergleiche zwischen
„dem Holocaust und anderen Ereignissen“ zurückwies. Als Reaktion darauf
verfassten 580 Wissenschaftler – viele von ihnen mit direkten
Verbindungen zum Museum – einen Protestbrief und verurteilten den
Beschluss des USHMM, „jeglichen möglichen Vergleich mit dem Holocaust
oder den zu ihm hinführenden Ereignissen grundlegend abzulehnen“, als
„im Grundsatz unhistorisch“.

Ende Juli verabschiedete das US-Repräsentantenhaus seinerseits eine
Resolution, die BDS verurteilte – mit der überdeutlichen Mehrheit von
398 zu 17 Stimmen. Das klare Ergebnis wurde allgemein als Antwort auf
die kritischen Stellungnah­men zur unhinterfragten Unterstützung Israels
durch die USA angesehen, wie sie von Ocasio-Cortez sowie der
palästinensischamerikanischen Abgeordneten Rashida Tlaib aus Michigan
und der somalischamerikanischen Abgeordneten Ilhan Omar aus Minnesota
abgegeben worden waren.

Als jüdischer US-Bürger, der die Boykottbewegung unterstützt, und als
Historiker, der über das jüdische Volk und den Holocaust forscht, sowie
als Unterzeichner beider Briefe hat mich die Art und Weise alarmiert, in
der die BDS-Bewegung falsch charakterisiert und dämonisiert wird. Mir
geht es dabei um zwei Punkte: Zunächst ist der Versuch, BDS als
antisemitisch darzustellen, vor allem ein Trick, um legitime Kritik an
Israels Umgang mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten
abzuwehren. Zum anderen – und genauso besorgniserregend – verkennen all
jene, die vor BDS warnen, die sehr viel gefährlichere Bedrohung, die für
Juden und andere Minderheiten in beiden Ländern von rassistischen
Vorkämpfern einer weißen Vorherrschaft ausgeht.

Als die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern in den besetzten
Gebieten am heftigsten tobte, steckten Linke und Liberale im Westen in
einem schweren Dilemma, wenn sie die palästinensische Sache unterstützen
wollten, aber auf keinen Fall bereit waren, Terroranschläge gegen
israelische Zivilisten hinzunehmen. (Israelische Angriffe auf
palästinensische Zivilisten kamen wesentlich häufiger vor, führten aber
nicht zu den gleichen Seelenqualen, sei hier angemerkt). Vor allem in
den 1990er Jahren, in der Zeit zwischen der Ersten und der Zweiten
Intifada, hörte man sinngemäß oft die Klage: „Wenn die Palästinenser
sich doch zur Gewaltlosigkeit bekennen würden, dann könnten wir ihre
Sache unterstützen.“

Die Selbstmordattentate, Anschläge auf Busse und Steinwürfe waren für
diese Liberalen Grund genug, über Israels systematische Unterdrückung
der Palästinenser hinwegzusehen. Dazu gehörten außergerichtliche
Tötungen, die Beschlagnahme palästinensischen Bodens, unbegrenzte
Inhaftierung und regelmäßige Militärüberfälle auf die Zivilbevölkerung.

Die BDS-Bewegung hat seit ihrer Gründung 2005 genau solch eine Strategie
des gewaltlosen Widerstands gegen Israel befürwortet, die einst von der
westlichen Linken gefordert wurde. Sie will, dass Israel zur Einhaltung
des Völkerrechts gezwungen wird. Nicht mit ­Gewalt, sondern ­mittels
wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, politischer und akademischer
Ausgrenzung und Isolation. Obwohl dies eine pazifistische ­Strategie
ist, um palästinensisches Leid zu ­beenden, haben sich ansonsten
wohlmeinende liberale und fortschrittliche Menschen an die Seite
­weniger wohlmeinender israelischer ­Politiker und ­zionistischer
Organisa­tionen gestellt, die BDS als die größte existenzielle
Be­drohung des jüdischen Staates bezeichnen und von einem klaren Fall
von Antisemitismus sprechen.

Immer häufiger hört man, dass ein „neuer Antisemitismus“, wie er etwa
von BDS ausgehe, zu einer Gefahr für Juden zu werden drohe, wie man sie
seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nicht mehr erlebt habe.
Studien mehrerer bedeutender jüdischer Organisationen warnen vor
Antisemitismus als „klarer und offensichtlicher Gefahr“, und eine Reihe
von Kommentatoren warnen, dass ein weiterer „Krieg gegen die Juden“
bevorstehe. Solche Aussagen sind weniger von einer realen Gefahr für die
Juden in den USA und in der übrigen Welt motiviert, sondern sie sind
Teil einer beständigen Kampagne, Debatten, Gespräche, wissenschaftliche
Forschung und politische Aktivitäten zu verhindern, die Israels Umgang
mit den Palästinensern kritisieren.

In Wahrheit ist der „alte Antisemitismus“ der extremen Rechten eine viel
größere Bedrohung für Juden, er zwingt uns zu Wachsamkeit und
anhaltendem Widerstand. In Deutschland hat der Rechtsextremismus Ausmaße
erreicht, die es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gab.
Als Beispiel muss man zuallererst den schockierenden Angriff an Jom
Kippur letzte Woche in Halle nennen. Halle war nur eine Fortsetzung:
Erinnern wir uns an die migrationsfeindlichen und antisemitischen
Massendemonstrationen in Chemnitz und an die Ermordung des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke. In den USA haben weiße Rassisten,
die von Trumps rassistischen Ausfällen und Maßnahmen ermutigt werden,
Synagogen, jüdische Gemeindezentren und Friedhöfe angegriffen. In
Pennsylvania und Ka­lifornien wurde ein Dutzend jüdischer
Synagogenbesucher erschossen. Anfang August ermordete ein bewaffneter
weißer Rassist in El Paso, Texas, 22 Menschen, weil er überzeugt war,
eine „hispanische Invasion in Texas“ stoppen zu müssen.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Debatten um BDS Israels illegale und
unmoralische Besetzung Palästinas in den Hintergrund treten lassen. Wir
dürfen genauso wenig zulassen, dass die Debatten über BDS uns von der
tatsächlichen Bedrohung ablenken, mit der Juden und andere ethnische
oder religiöse Minderheiten in Europa und in den USA konfrontiert sind.
Es gibt ja zahlreiche jüdische Gruppen und Einzelpersonen, die sowohl
aus Solidarität mit den Palästinensern als auch aus dem Bedürfnis, sich
weißem Rassismus entgegenzustellen, BDS ausdrücklich unterstützen.

Da man weiß, dass der Zionismus erfolgreich einen jüdischen
Nationalstaat gründen konnte, einen Staat mit Grenzen, Streitkräften,
einem Wahlsystem und Nuklearwaffen – und da gleichzeitig viele Juden
innerhalb wie außerhalb Israels nicht mit Israels Umgang mit den
Palästinensern einverstanden sind, ist es offensichtlich historisch und
faktisch falsch, die BDS-Bewegung als im Wesenskern antisemitisch zu
bezeichnen.

Wer darauf besteht, dass der israelische Staat kein Ziel von Protesten
oder Boykottaufrufen sein darf, wer vorschreibt, dass die Macht des
jüdischen Kollektivs nicht analysiert oder infrage gestellt werden darf,
oder wer zu dem Schluss kommt, dass wir Juden, weil wir einmal Opfer
eines der größten genozidalen Verbrechen der Menschheit wurden,
irgendwie immun gegen die Versuchung seien, gewaltsam gegen andere
Völker vorzugehen, der verstärkt nur den antisemitischen Glauben, dass
das Volk der Juden sich fundamental von anderen Völkern unterscheide.
Und der ermöglicht, dass das Leid der Palästinenser unter israelischer
Besetzung sich ungehindert fortsetzt.

Außerdem machen es Versuche, die Definition von Antisemitismus auf
Phänomene zu erweitern, die eindeutig nicht gegen Juden als solche
gerichtet sind, nur schwieriger, tatsächlich antisemitischen Hass zu
erkennen, zu isolieren und sich ihm zu widersetzen, wo immer er auftritt.

*Barry Trachtenberg ist Professor für Jüdische Geschichte an der Wake
Forest University in North Carolina, USA. Er ist Mitglied des
akademischen Beratungsgremiums von Jewish Voice for Peace*.

/Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Schaaf/

https://taz.de/!5631712/

 

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