Nie wieder Krieg! Gibt es heute noch eine Mehrheit für diese selbstverständliche Forderung?

Unter Menschen, die keinen Krieg wollen, gab es in den letzten Jahren trotz des Frustes über die Kriege des Westens, über Aufrüstung statt Abrüstung und russenfeindliche Äußerungen der Röttgens, Ischingers, Stoltenbergs, von der Leyens usw. immer noch einen Trost: Es herrschte die Gewissheit, dass die Mehrheit der Deutschen für Frieden und Zusammenarbeit mit Russland eintrete.

 So unser Eindruck. Gilt das noch? Nach Beobachtung der politischen Ziele und nach vielen Gesprächen zum Thema fürchte ich: Die Feindseligkeit ist wieder da. Sie ist systematisch aufgebaut worden. Was ist Ihr Eindruck? Albrecht Müller

Gestern jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Auch deshalb komme ich auf diese kritische Entwicklung zu sprechen. Zunächst in Stichworten ein Rückblick und dann zu den aktuellen Beobachtungen:

  1. Ein kurzer historischer Rückblick, eine persönliche Beobachtung
    Kurz nach dem 8. Mai 1945 wurde ich 7 Jahre alt. Ich hatte den Krieg vielfach mitbekommen: brennende Städte, Familien ohne Väter, Flüchtlinge, Ausgebombte und viele Gespräche Erwachsener am Küchentisch. Nie wieder Krieg! – das konnte man damals aus dem Mund von Kommunisten, Sozialdemokraten und von Nationalsozialisten hören. Auf jeden Fall von heimkehrenden Kriegsgefangenen.
    Deshalb hatten viele damals die Hoffnung, die Zeit des Militärs sei jedenfalls in Deutschland vorbei. Das war eine Täuschung. Beginnend mit der Berlin-Blockade setzte eine massive antisowjetische Agitation ein – betrieben von Seiten der Alliierten im Westen und von deutschen Politikern und Parteien. Der Russe ist der Böse, wir sind die Guten. Darauf konnte man sich im Wirtschaftswunder-West-Deutschland der fünfziger und beginnenden sechziger Jahre gut ausruhen.
    Die Auseinandersetzungen zwischen dem Häuflein jener unter uns jungen Leuten, die das „Nie wieder Krieg“ ernstgenommen hatten, und den Kalten Kriegern in unseren Schulen und Universitäten waren ziemlich hart. Bemerkenswert: Es gab damals, am Ende der Fünfzigerjahre und zu Beginn der Sechzigerjahre unter Studenten, unter Arbeitern, unter Kirchenleuten, unter Journalisten und Politikern eine wachsende Zahl von Menschen, die dem Kalten Krieg trotzten. Der RCDS und die Junge Union hatten zunehmend nicht mehr selbstverständlich die meinungsbestimmende Mehrheit in der jungen Generation. Daran zu erinnern, ist wichtig im Blick auf heute.
    Jedenfalls konnten es Willy Brandt und andere 1963 wagen, in einer breiten Öffentlichkeit den Abbau der Konfrontation mit dem Osten zu fordern und die Entspannungspolitik einzuleiten. Die 68er-Bewegung hat mit ihrer Kritik am Vietnamkrieg – unabgesprochen – ihren Teil dazu beigetragen, um gegen Kriege und Konfrontation zu mobilisieren.
  2. Die Erfolge der Entspannungspolitik und die Hoffnungen von 1989/1990
    Im Dezember 1966 wurde Willy Brandt Außenminister und sicherte zugleich das Konzept für eine Verständigung mit dem Osten bei den westlichen Außenministern ab. Im Oktober 1969 verkündete er in seiner ersten Regierungserklärung: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Das war die Basisparole für die dann beginnende Umsetzung der Entspannungspolitik. Dann die konkreten Schritte zur Verständigung und zum Gewaltverzicht: 1970 der Moskauer Vertrag, dann kamen der Vertrag mit Polen und mit der Tschechoslowakei und dann 1975 die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und später die Nachfolgeorganisation OSZE.
    Es gab immer wieder Rückschläge, aber am Ende landeten wir beim Mauerfall und dem Ende der Konfrontation im Herbst 1989.
    Diese Zeit war voller Hoffnung auf eine tiefgründige Entspannungspolitik und auch auf das Ende der militärischen Blöcke. Ich erinnere zum wiederholten Mal an das Berliner Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989, in dem Gemeinsame Sicherheit, Abrüstung und das Ende beider Blöcke verlangt wurden.
    Über die Notwendigkeit, die Konfrontation mit dem Osten einschließlich Russlands abzubauen, gab es einen breiten Konsens. Namentlich Helmut Kohl, der zuvor wie auch der CSU-Vorsitzende Strauß gegen die Entspannungspolitik polemisiert hatte, hatte sich mit dieser Politik versöhnt und war als Bundeskanzler sogar eine wichtige Stütze dieser deutschen Friedenspolitik.
  3. Der Bruch: Von der Gemeinsamen Sicherheit zur neuen Konfrontation
    Die USA und die mit ihnen verbundenen Kräfte in Europa und Deutschland brachen mit dem Gedanken und dem Projekt, sich in Europa auch mit Russland auf Dauer und ohne militärische Konfrontation zu verständigen, schon zu Beginn der Neunzigerjahre. Sie begannen ihre Kriege zu führen – so damals 1990 gegen den Irak. Die USA mischten sich zu Zeiten des Präsidenten Jelzin in die inneren Angelegenheiten Russlands ein. Die NATO wurde ausgedehnt. Am Ende bis an die Grenze Russlands.
    Es gab in dieser Phase zwischen dem Mauerfall 1989 und den Vereinbarungen in der Charta von Berlin im Jahre 1990 und heute eine Reihe von markanten Ereignissen, die die Veränderungen und den Bruch der gegenseitigen Versprechungen sichtbar machen. Zum Beispiel der Kosovo-Krieg der NATO gegen Restjugoslawien, die Raketenrüstung in Osteuropa, die ausbleibende Antwort des Westens auf weitreichende Vorschläge des russischen Präsidenten Putin wie jenen zur Kooperation in Europa – so deutlich formuliert in seiner Bundestagsrede vom September 2001. 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz machte der russische Präsident die Enttäuschung für alle öffentlich hörbar.
  4. Vom positiven Wandel durch Annäherung zum schlimmen Wandel durch Konfrontation
    Die von Willy Brandt und Egon Bahr 1963 formulierte Vorstellung, mit der Annäherung zwischen den Staaten und Völkern in Ost und West könne man auch einen Wandel im Inneren erreichen und verbinden, hatte Konsequenzen. Es hat sich vieles im Inneren, zumindest in den Staaten des früheren Ostblocks verändert – Zusammenarbeit, Abrüstung, Austausch auf allen Ebenen.
    Seit einiger Zeit erleben wir, dass die Formel auch auf den Kopf gestellt werden kann: Mit der neuen Konfrontation verändert sich auch die innere Entwicklung zum Schlechteren: Militär und Rüstung haben eine neue große Bedeutung gewonnen; es besteht die Gefahr mentaler Konfrontation und des Rückfalls auf nationalistische Ideologien. Und in der Außen- und Sicherheitspolitik wird umgeschaltet von Zusammenarbeit auf die Wahrung eigener Interessen. Sichtbarstes Zeichen war die Übernahme der Krim durch Russland, die Annexion, wie üblicherweise im Westen gesagt wird.
    Das war das bisher sichtbarste äußere Zeichen dafür, dass Konfrontation, dass die Zurückweisung der ausgestreckten Hand zu negativem Wandel führt.
    Vermutlich hat die Mehrheit der westlichen Beobachter und Kommentatoren diesen Zusammenhang nicht gesehen. Sie sind empört über die sogenannte aggressive Politik Russlands. Sie sehen nicht einmal den Zusammenhang zwischen dem Zugriff Russlands auf die Krim und der erkennbaren Absicht des Westens, die Ukraine einschließlich der Krim in den westlichen Verbund von EU und NATO aufzunehmen.
  5. Statt „vertrauensbildender“ Maßnahmen neubelebte Feindseligkeiten und damit systematischer Aufbau eines neu-alten Feindbildes
    Eine unumstößliche Konstante der in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingeleiteten Entspannungspolitik war die Erkenntnis, dass es ungemein wichtig ist, Vertrauen zwischen den Völkern und zwischen den Regierenden aufzubauen. „Vertrauensbildende“ Maßnahmen nannte man das. Dass dies wichtig sei, gilt heute offensichtlich nicht mehr: Es wird aufgerüstet, an der russischen Grenze werden auch mit deutscher Beteiligung Manöver abgehalten, die hier lagernden Atomwaffen werden modernisiert, die deutsche Verteidigungsministerin will neue Trägerflugzeuge für diese Atomwaffen besorgen, in den deutschen Medien, vom Deutschlandfunk bis zur taz, und von der Bild-Zeitung bis zur FAZ kann man unentwegt schlimme Geschichten über Russland und insbesondere über den russischen Präsidenten sehen, lesen, hören; es wird nicht mehr von gemeinsamer Sicherheit geredet und stattdessen das Hauptwort des Kalten Krieges, das Wort „Abschreckung“, neu installiert und belebt; ständig werden Behauptungen über angebliche Feindseligkeiten Russlands gestreut: Putin finanziere die rechtsradikalen Parteien Europas, Putins Trolle greifen in Wahlen des Westens ein, Russland ist auch verantwortlich dafür, dass Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde; Russland ist schuld am Syrien-Krieg, Russlands Bomben zerstören Krankenhäuser und töten Kinder usw. – die Propaganda läuft auf vollen Touren. Es gibt kaum noch differenzierte Berichte und Kommentare.Ich glaube nicht, dass dieser Feindbildaufbau vom Himmel gefallen ist. Wir müssen davon ausgehen, dass systematisch und mit großem Finanz- und PR-Aufwand an der neuen Konfrontation gearbeitet wurde und wird. Vermutlich sind die verschiedenen zuvor zitierten Parolen und Vorwürfe systematisch geplant worden. Am Geld dafür mangelt es offensichtlich nicht.
  6. Der Feindbildaufbau wirktIn den Parteien sowieso: Die ehemaligen Friedensparteien, die SPD und die Grünen, sind als solche abgetreten. Die Grünen und ihre Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung, sind sogar so etwas wie die Vorreiter zur Verstärkung der Konfrontations-Stimmung geworden. Sozialdemokraten wie der Fraktionsvorsitzende Mützenich versuchen gelegentlich einen Ausbruch aus der Bunkerstimmung – so mit der Forderung an die USA, die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Siehe hier: SPD fordert Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland. Unterstützenswert. Widerstand regte sich sofort. Nach meinem Eindruck ist die Mehrheit der Mandatsträger der SPD weit weg von der ursprünglichen Idee der Gemeinsamen Sicherheit und Abrüstung.
    In der Union dominieren die Atlantiker sowieso. Ausnahmen wie Stoiber bei der CSU und Platzeck bei der SPD bestätigen die Regel.In Gesprächen mit Freunden und Bekannten aus meiner Generation und mit jungen Leuten gewinne ich den Eindruck, dass Frieden auch mit Russland gerade noch als Ziel erkannt und anerkannt wird. Aber die Kampagne gegen den russischen Präsidenten hat in weiten Kreisen gewirkt. Der Stoßseufzer „Aber der Putin“ ist überall zu vernehmen. Putin ist erfolgreich verteufelt worden. Und anders als in den Zeiten des Kalten Krieges in den fünfziger und sechziger Jahren trifft man heute weder in bildungsbürgerlichen Kreisen noch in den Medien das Korrektiv zur allgemeinen Stimmung. Keine Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche, keine Frankfurter Rundschau, kein Spiegel, kein Günter Gaus, keine ARD mit einer klaren und unumstößlichen friedenspolitischen Haltung. Das hat auch Konsequenzen für die Meinung der großen Mehrheit, soweit sie überhaupt an politischen Fragen interessiert ist und nicht schon seit langem durch die Berieselung mit Krimis und Ratespielen vom kommerzialisierten Fernsehen und Hörfunk stillgestellt ist.

    Deshalb komme ich zum betrüblichen Schluss, dass es keine Mehrheit mehr für Freundschaft mit Russland gibt.

  7. Symptom: der Umgang mit russischen MedienSymptomatisch für diese aus meiner Sicht eingetretene Veränderung ist der Umgang mit russischen Medien in Deutschland. Hier hat sich in den letzten Wochen und Monaten eine alarmierende Verhärtung angebahnt.
    Kurz zur Information: In Russland wie in vielen Ländern der Welt ist die Deutsche Welle tätig. Die Deutsche Welle wird von uns Steuerzahlern finanziert. In Deutschland und vielen anderen Ländern sind einige russische Medien tätig. Bei uns zum Beispiel RT Deutsch, über dessen Stück zum Kriegsende wir gestern berichtet haben. RT Deutsch tritt bei uns nur über das Internet auf. Eine Sendelizenz hat das Medium nicht und wird es wohl auch nicht erreichen.Aufmerksamen Beobachtern wird schon seit längerem aufgefallen sein, dass der Vertreter von RT Deutsch in der Bundespressekonferenz von unseren Regierungssprechern wie der „letzte Dreck“ behandelt wird. Das Medium wurde zusätzlich von verschiedenen anderen Medien öffentlich angegriffen – nach meinem Eindruck unberechtigt, vor allem unberechtigt, wenn man die informative Gesamtbilanz dieses Mediums mit der Gesamtbilanz der deutschen Medien vergleicht.

    Die Kampagne wirkt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von RT Deutsch haben inzwischen kaum mehr eine Chance, Gesprächspartner unter Menschen des öffentlichen Lebens in Deutschland zu finden. Ich würde das nicht behaupten, wenn ich einen solchen Vorgang nicht selbst erlebt hätte: eine Redakteurin des Mediums, die mich interviewt hatte, bat mich um die Weiterleitung einer Interviewanfrage an einen deutschen Professor. Er lehnte, weil er Sorge um seinen guten Ruf hat, ab.
    Ich kann ihn verstehen. So ist die Stimmung.

    Die Stimmung gegenüber russischen Einrichtungen ist feindselig. Das ist eine völlig veränderte Situation. Und diese Situation ist gefährlich.

    Wie anders die Situation früher war, habe ich schon einmal auf den NachDenkSeiten beschrieben.
    Zum Beleg der veränderten Situation möchte ich auf das am 6. März schon gezeigte Foto hinweisen:

    Das ist ein Foto aus dem Wahlkampf-Sonderzug des damaligen Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden Willy Brandt zusammen mit deutschen und ausländischen Journalisten. Ihm gegenüber der russische Korrespondent einer Moskauer Zeitung. Lachend, freundschaftlich. Das war 1972. Wo ist dieser selbstverständliche Umgang mit unseren Nachbarn geblieben?

    Wenn das Gedenken an das Ende des Krieges vor 75 Jahren einen Sinn haben soll, dann den, aufzuwachen und dem Aufbau der Feindbilder entgegenzuwirken. Tun Sie etwas dagegen. Lassen Sie sich nicht einlullen von der wachsenden aggressiven Stimmung gegenüber unserem Nachbarn im Osten.

    Ein Artikel von: Albrecht Müller

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