Ist der Russ‘ allein schuld?Franz Sölkner
Kommentar zum Artikel „Russische Machtdemonstration“, Kl. Ztg. v. 22. April 2021
Der Artikel von Frau Nina Koren beschreibt die militärischen Vorgänge an der Ostgrenzeder Ukraine aus der überwiegend einseitigen politischen Perspektive der NATO-Politikerund ihrer Militärstrategen. Wichtige Fakten bleiben unerwähnt.
Wichtig ist dabei, die Er-eignisse in größeren historischen Zusammenhängen zu verstehen. Russland: Imperiale Tradition und historische Erfahrungen Spätestens seit Peter dem Großen, also seit mehr als 300 Jahren, betreibt Russland eineimperiale Großmachtpolitik und versucht sich dabei in Ostmitteleuropa ein strategischesVorfeld zu sichern. Auf Störungen dieser Interessen reagiert die russische Politik jeweilsallergisch. Drei große Aggressionskriege aus dem Westen (Napoleon 1812, 1. und 2.Weltkrieg) haben dieses Interesse ein Glacis zu haben wesentlich verstärkt. Mit einerungeheuren Zahl von Kriegsopfern wurde das Land teilweise bis Moskau hin verwüstet.Im 2. Weltkrieg lag die Zahl der Toten der Sowjetunion etwa bei 24 Millionen, davonmehr als 14 Mio. ZivilistInnen. Das waren 40% aller europäischen Kriegstoten der Jahre1939 bis 1945. Die daraus erwachsenden, starken russischen Sensibilitäten bezüglich derBedrohung seines westlichen Sicherheitskordons sind tief im kollektiven Bewusstseindes Volkes verankert. Bestätigung fanden diese begründeten Ängste des russischen Volkes in jüngerer Zeitauch durch die wichtigsten geostrategischen Vordenker des Westens. Es waren ja nichtnur die kriminellen Politphantasien der Nazis, die den slawischen Osten Europas als Feldder militärischen Unterwerfung und wirtschaftshegemonialen Ausbeutung propagierthaben. Russland als Teil des „euro-asiatischen Herzlandes“ stand auch im Zentrum voneinflußreichen Geostrategen der Angloamerikaner, vom Briten Halford Mackinderunmittelbar nach dem 1. Weltkrieg bis hin zum US-Präsidentenberater Zbigniew Brze-zinsky, der 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ die Beherrschung der „Euro-asiatischen Festplatte“ durch die USA forderte.Die NATO: Unfriedensallianz und leere VersprechungenNach dem 2. Weltkrieg gründet sich 1949 zuerst die NATO und als Gegengewicht derkommunistischen Staaten 1955 der Warschauer Pakt. Die Blockkonfrontation des KaltenKrieges fand mit der Gorbatschow‘schen Entspannungspolitik und derWiedervereinigung Deutschlands ihr Ende. Deutsche und US-Politiker versprachen dieGrenzen der NATO nicht nach Osten vorzuschieben. US-Außenminister James Baker,sprach sogar von „not one inch“. Der deutsche Kanzler Kohl und BRD-AußenministerGenscher sprachen von der Möglichkeit das Territorium der damals noch bestehendenDDR nicht in das Operationsfeld der NATO einzubeziehen. Der Fehler Gorbatschows undseines Außenministers Schewardnadse bestand darin, nicht auf der vertraglichenFestschreibung dieser Versprechen bestanden zu haben.
Neoliberale Plünderung Russlands Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 löste sich der Warschauer Pakt auf, nicht aberdie NATO. Zunächst gingen die von ihrem Sieg trunkenen politischen Interessenswahrerdes inzwischen gigantisch angewachsenen westlichen Kapitals daran die Staaten desehemaligen sozialistischen Blocks zu plündern. In Russland war mit Boris Jelzin rasch einnützlicher Idiot gefunden. Während eine schmale Gruppe von heimischen Oligarchenrasch riesige Vermögen anhäuften, stürzten breite Teile der Bevölkerung inArbeitslosigkeit und drückende Armut. Wieder erlebte eine Mehrheit der RussInneneine aus dem Westen kommende Bedrohung, diesmal – ohne Militär – über den Hebelenthemmter neoliberal-kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen. Diese „Schockstrategie“(Naomi Klein) bereitete den Boden für die neoautoritäre Restrukturierung des Landesunter Putin. Eine Entwicklung, die ihrerseits den USA und ihren europäischen NATO-Partnern bei ihrer Suche nach neuen Feindbildern gelegen kam. Neue Feindbildproduktion und NATO-OsterweiterungDas Feindbild Russland geriet in den Augen der Eliten des Westens zwar zunächst nochin den Schatten jener mächtigeren Angstprojektionen, die sich an Entwicklungen inverschiedenen, den USA nicht gefügigen Staaten des westasiatisch-nordafrikanischenRaumes (Afghanistan, Iran, Irak, Libyen) festmachten. Aber eine Osterweiterung derNATO ließ sich ohne das Feindbild der Atommacht Russland nicht bewerkstelligen.Anders als 1990 versprochen, begann die NATO um die Jahrtausendwende ihrestrategische Ostexpansion vorzubereiten. Hilfreich war dabei auch, dass vor allem in denBevölkerungen der baltischen Staaten und Polens historisch begründbare antirussischeRessentiments und Sehnsüchte nach dem „schützenden Schirm“ der NATO gegebenwaren und aufgegriffen werden konnten. Innerhalb weniger Jahre wurden dann ab 2004alle „potentiellen ostmitteleuropäischen Pufferstaaten“ von Estland bis Bulgarien in dasnordatlantische Bündnis einbezogen. An ihrer Nordflanke stand die NATO damit direktan der Grenze Russlands, 150 km vor der Metropole St. Petersburg. Die Verweigerung der ausgestreckte HandDas von Putin in seiner Rede 2001 vor dem Deutschen Bundestag gemachte Angebot eingemeinsames „Haus Europa“ zu gestalten, wurde ebenso wenig ernst genommen, wieseine eindringliche Warnung bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, Russlandwerde ein weiteres Heranrücken der NATO und eine von den USA angestrebte unipolareWeltordnung nicht akzeptieren. 2014 brachte der Versuch der EU, die Ukraine aus ihrerBrückenfunktion zu lösen und eng an ihr Wirtschaftsimperium zu binden, die russischenAlarmglocken erneut zum Schrillen. Das führten nach dem vom Westen mitgesteuertenPutsch in Kiew zu den bekannten Bürgerkriegs-Ereignissen in der Ostukraine und zurrussischen Annexion der Krim. Zweierlei Maß von USA und NATO Die USA haben nach dem 2. Weltkrieg in der Interpretation ihrer Sicherheitsbedürfnisseimmer mit doppeltem Maß gemessen. Als die USA im April 1962 in der Türkei, also an derSüdwestflanke der Sowjetunion, atomar bestückte Mittelstreckenraketen stationierten und Moskau daraufhin im Oktober mit einer Atomraketenstationierung auf Kubagleichziehen wollte, erklärte Washington das als völlig unakzeptabel. Kennedy drohtemit einem Atomkrieg. Chruschtschow gab nach, die Anlieferung der Raketen nach Kubawurde abgebrochen. Jene, die von Deutschland und der Türkei aus Moskau bedrohten,blieben.Zur militärischen Sicherung ihres Weltherrschaftsanspruches unterhalten die USA rundum die Welt ca. 650 Militärstützpunkte. In der Absicht seiner Einkreisung undEinschüchterung liegen viele davon in der Nähe Russlands. Der Vergleich der MilitärbudgetsDie USA unterhalten ein gigantisches Militärbudget, das – laut dem jüngsten SIPRI-Bericht für das Jahr 2020 – 778 Mrd. US-Dollar bzw. ca. 38 Prozent der weltweitenRüstungsausgaben beträgt. Innerhalb eines Jahres wurde das Budget um 4,4 %gesteigert. Demgegenüber liegen die Ausgaben Russlands bei nicht einmal einemZehntel von jenen der USA. Auch Russland steigerte seine Ausgaben von 2019 auf 2020um 2,5 Prozent, allerdings nachdem es 2015 – 2017 seine Ausgaben jährlich gesenkthatte. Die Gesamtausgaben aller NATO-Staaten für Rüstung und Militär betragen mehrals die Hälfte der Gesamtausgaben weltweit. Auch bei der NATO-Zielvorgabe, die Militärbudgets ihrer 26 Mitgliedsstaaten bis 2024auf 2 % des BNP zu erhöhen, hat Moskau verständlicherweise ein Deja-vu-Erlebnis.Natürlich kommt das bei der russischen Führung so an, dass es hier um eine Neuauflageder Strategie von US-Präsident Ronald Reagan aus dem Jahr 1983 geht. Mit einergewaltigen Steigerung des Rüstungsetats forcierte dieser eine „Strategic DefenseInitiative / SDI“. Mit ihr sollte die Sowjetunion in einen Wettlauf zur militärischenBeherrschung des Weltraums hineinmanövriert werden. In den Produkten derFilmindustrie Hollywoods wurde das Projekt unter dem Begriff „Star Wars“ aufgeblasen.Das Projekt erwies sich letztlich als nicht durchführbar. Die Pläne der US-Regierung unddes Pentagons gingen aber insoferne auf, als dieser Rüstungswettlauf einenwesentlichen Beitrag leistete zum wirtschaftlichen Konkurs und zum Ende derSowjetunion. USA: Kein Verzicht auf atomare ErstschlagsdoktrinMit der Aufstellung der Raketen-Abwehr-Systeme in Polen und Rumänien 2016verschoben die USA das vorher gegebene Gleichgewicht des atomaren Schreckens zuungunsten Russlands. Der Kreml fürchtet, im Kriegsfall ohne die Möglichkeit desGegenschlages einem Atomraketenangriff der USA ausgeliefert zu sein. Hinzu kommt:Die sowjetische und später die russische Militärdoktrin sieht ausdrücklich vor,Atomwaffen nicht als erster einzusetzen. Als der frischgebackene deutsche Außenminis-ter Joschka Fischer 1998 von den USA dasselbe forderte, wurden ihm von seiner US-Amtskollegin Madeleine Albright umgehend „die Wadl viri g’richtet“. Und auch als der ukrainische Präsident Wlodymyr Selenskyj kürzlich ankündigte, dieUkraine werde sich um den Beitritt zur NATO bewerben und dies von NATO-Generalse-kretär Stoltenberg nicht klar zurückgewiesen wurde, kann das in Moskau nicht zur Beruhigung beigetragen haben. Mit genau derselben Befürchtung, Weißrusslandkönnte eines Tages NATO-Mitglied sein und ein westliches Kriegsbündnisdamit – so wieDeutschland und Österreich-Ungarn im 1. Weltkrieg – erneut 400 km vor Moskau stehen,unterstützt Putin das undemokratische Regime Lukaschenko in Minsk.NATO-Großmanöver mit Österreich Beihilfe Sowohl die NATO als auch Russland haben in den letzten Jahren an den Grenzen ihrerInteressensphären Großmanöver durchgeführt. Übungsannahme war jeweils ein not-wendiger Verteidigungsfall. So etwa die NATO bei ihrem Großmanöver Trident Junction2018. Ein 2020 geplant gewesenes großangelegtes NATO Militärmanöver konnte coro-nabedingt nur teilweise durchgeführt werden. Bei „Defender Europe 2020“ wurden 37000 Soldaten, Hunderte Panzer, 13 000 Stück Material und Kriegswaffen bewegt. ZweiDrittel davon wurden per Schiff und Flugzeug extra über den Atlantik gebracht. DiesesManöver wird in den nächsten Monaten unter dem Namen „Defender Europe 2021″weitergeführt. Diesmal sind 28.000 Soldaten im Einsatz. Wesentliches Manöverziel ist,die Tauglichkeit der Verkehrsinfrastruktur für schnelle Truppenverlegung an die NATO-Ostgrenze zu üben. Das neutrale Österreich ist da leider wieder einmal als willigerGehilfe mit dabei. Mit Erlaubnis unserer Regierung werden 2000 Soldaten, 800Militärfahrzeuge und zahlreiches sonstiges Kriegsgerät auf 2 Routen durch Österreichtransportiert werden. Wie derlei Transporte zur Klimastrategie der Regierung passen,mögen friedensbewegte Menschen sich vom grünen Koalitionspartner erklären lassen.Das alte Spiel, neu inszeniertDas Spiel ist altbekannt. Man hält riesige militärische Bedrohungspotentiale aufrecht,rüstet den Gegner an die Wand, kreist ihn mit Militärbasen und Bündnisstrukturen ein,und provoziert machtpolitisch häufig auf einem niederen oder mittleren Niveau. Undwenn die Provozierten dann mit harschen militärischen Drohgebärden reagieren, setztman die Unschuldsmiene auf und schreit laut „Stoppt den Aggressor!“. Die EuropäischeÖffentlichkeit sollte da nicht länger mitspielen. Keine verantwortbare Alternative zur Entspannungspolitik Gewiss, Putin und seine Systemträger sind keine Waisenknaben. Auch sind Mächte miteinem imperialen Anspruch für kleinere Staaten an ihren Grenzen und große identitäreVolksgemeinschaften für nationale Minderheiten immer problematische Nachbarn. Daswar bei der deutsch-ungarisch dominierten Großmachtpolitik der Habsburger-Monarchienach außen und innen nicht anders. Das erklärt teilweise auch die aktuellen, aus ihrerjüngeren Geschichte erwachsenden Russland-Ängste vieler Menschen im Baltikum undPolen. Trotzdem führt an dem seinerzeit von Willy Brands Ostpolitik vorgezeichnetenWeg der unermüdlichen Entspannungsbemühungen und einem ernsthaften Abrüstungs-und Friedensdialog kein sinnvoller Weg vorbei. Zu glauben, das westliche Europa sollsich dauerhaft in transatlantischer Treue gegen seinen mächtigen östlichen Nachbarninstrumentalisieren lassen, ist nicht mehr und nicht weniger als eine verantwortungslosefriedenspolitische Kurzsichtigkeit.
Österreichs Neutralität aktiv für den Frieden nutzen!In den letzten 30 Jahren wurde Österreichs „immerwährende Neutralität“ durch vielekurzsichtige Einzelentscheidungen Stück für Stück beschnitten und ausgehöhlt. Abernoch gibt es sie. Im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit ist von unserer Regierung zu fordern,die Erlaubnis für die geplanten NATO-Militärtransporte zu widerrufen. Und dann -durchaus auch in der Tradition der Außenpolitik Bruno Kreiskys – möge unser Land imSinne einer „Aktiven Neutralitätspolitik“ einen großen innereuropäischen Friedensdialogmit Russland anbahnen. In den 1. Weltkrieg ist Europa teilweise durch eine kurzsichtigePolitik und dumme hegemoniale Muskelspiele hineingestolpert. Bei diesemschrecklichen Irrweg war Österreich vorneweg mit dabei. Wir sollten wieder mit dabeisein, nur diesmal in die umgekehrte Richtung zum Frieden!Petition unterschreibenGegen die aktuelle Mittäterschaft Österreichs bei den geplanten NATO-Transportendurch Österreich kann eine Internet-Petition an die Bundesregierung und denNationalrat unterschrieben werden unter https://mein.aufstehn.at/petitions/stopp-neutralitatswidriger-kriegsmaterial-und-truppentransporte-durch-osterreich?just_launched=trueFranz Sölkner, ist Aktivist der Steirischen Friedensplattform
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