Neue Studie über die Opferzahl des »War on Terror«
Der 2001 ausgerufene »War on Terror« hat nach einer neuen Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) im Irak, in Afghanistan und Pakistan rund 1,7 Millionen Menschenleben gekostet.
»Präzisionswaffen ändern nichts am hohen Prozentsatz getöteter Zivilisten in asymmetrischen Kriegen«, erklärte Vorstandsmitglied Jens Wagner zur Vorstellung des IPPNW-Reports »Body Count – Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror« am Freitag in Berlin. Die Autoren Joachim Guilliard, Lühr Henken und Knut Mellenthin hatten für den Report systematisch wissenschaftliche Studien über die Toten auf beiden Seiten der Kriege im Irak, in Afghanistan und Pakistan zusammengestellt und aktualisiert, um die Konsequenzen und den »humanitären Preis« des »War on Terror« aufzuzeigen.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war mit Bedacht gewählt, denn am Freitag abend sollte in Camp David der Gipfelmarathon der Staats- und Regierungschefs der G8, der NATO und der EU beginnen.
Immer noch würden über den Irak-Krieg Opferzahlen um 100000 herum publiziert, kritisierte IPPNW-Vorstand Wagner. Spätestens seit einer medizinisch-epidemiologischen Studie in der Zeitschrift Lancet im Jahr 2006 müsse aber das wahre Ausmaß der Zerstörung durch das überlegene US-Waffenarsenal und das von Besatzungstruppen verursachte Chaos deutlich geworden sein. Trotzdem bezögen sich fast alle Medien bis heute auf den »Iraq Body Count«, ein Projekt, das weniger als zehn Prozent der Kriegsopfer registriere – zum Beispiel, weil oft nicht eindeutig nachweisbar sei, daß es sich um Zivilisten handle.
Nach Überzeugung der IPPNW-Autoren hat der Irak seit der NATO-Invasion im Jahr 2003 bis heute zusätzlich zur normalen Sterblichkeit über eine Million, womöglich 1,5 Millionen Todesopfer durch direkte Gewalteinwirkung zu verzeichnen. Grundlage dieser Schätzung ist eben jene Lancet-Studie über die Mortalität im Irak. Dafür hatte im Jahr 2006 ein US-amerikanisch-irakisches Team unter der Leitung von Wissenschaftlern der Bloomberg School of Public Health an der John Hopkins University 1850 repräsentativ ausgewählte Haushalte im Irak befragt. Demnach hatte sich die Sterblichkeit von 5,5 Toten pro tausend Einwohner im Jahr vor Kriegsbeginn auf 13,3 in der Zeit danach erhöht. Für 90 Prozent der Verstorbenen lagen Totenscheine vor. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergab sich daraus die Zahl von 655000 Menschen, die ohne die Invasion noch am Leben wären, davon rund 601000 direkte Gewaltopfer und 54000 durch kriegsbedingte Umstände wie medizinische Mangelversorgung zu Tode gekommen.
Das angewandte Verfahren sei Standard und auch im Kongo, in Angola und Bosnien angewandt worden, ohne daß es prinzipiell angezweifelt worden wäre, so die IPPNW-Autoren. Die tatsächliche Zahl der Opfer im Irak bewegte sich demnach bis 2006 mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 390000 und 940000. Allerdings, so Wagner, seien bei der Befragung Orte mit besonders intensivem Kampfgeschehen wie Nadschaf und Falludscha außen vor geblieben. Den Mittelwert des »95-Prozent-Konfidenzintervalls« von 655000 rechnete IPPNW unter Berücksichtigung des späteren Kampfgeschehens und weiterer Quellen bis heute hoch.
In Afghanistan, wo die Datenlage schlechter sei als im Irak, könne von keinesfalls weniger als 70604 Kriegstoten, davon mindestens 43000 Zivilisten ausgegangen werden. In Pakistan seien bisher 2300 bis 3000 Menschen US-Drohnenangriffen zum Opfer gefallen, davon rund 80 Prozent Zivilisten. 40000 bis 60000 Tote habe es aber durch Kämpfe der von der US-Regierung unterstützten pakistanischen Armee mit unterschiedlichen Widerstandsgruppen gegeben.
Von Claudia Wangerin
http://www.jungewelt.de/2012/05-19/038.php
Anmerkung StFP:
In jedem Krieg in jeder bewaffneten Auseindaersetzung nahm die Zahl der getöteten ZivilsitInnen im Vergleich zu der der getöteten Bewaffneten zu. Waren unter den Toten des Ersten Weltkriegs noch 95% Soldaten und 5% ZivilistInnen, kehrte sich dieses Verhältnis in den letzten Jahrzehnten um: 90-95% ZivilistInnen als „Kriegstote“.
Schlussfolgerung: Jede bewaffnete Auseinandersetzung geht heute auf ungeheuerliche Kosten der ZivilistInnen.
Quelle gemäß Schätzung des Internat. Komitees des Roten Keuzes in Ritz, Hauke: „Wenn Nachrichten zu Waffen werden“, Suppl. der Zeitschrift Sozialismus 12/2011, S. 5
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