Keine überzeugende Wahl

Von Tom Strohschneider 12.10.2012 / Kommentar

Ja, auch die EU hat nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Periode des Friedens in Europa beigetragen.

Trotzdem vermag die Osloer Entscheidung nicht zu überzeugen: Für ihre aktuelle Politik hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis nicht verdient
Es ist vielleicht nicht die allergrößte Überraschung; eine Entscheidung, die berechtigte Diskussionen auslösen wird, ist es in jedem Fall: Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an die Europäische Union. In seiner Begründung verweist das Osloer Komitee auf den Beitrag der EU, die seit mehr als sechs Jahrzehnten zu Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten auf dem Kontinent beigetragen hätte.

Daran ist eines richtig: Auch der Prozess der europäischen Einigung hat dazu beigetragen, dass nach einer historischen Periode mörderischer Kriege lange Zeit die Waffen in Europa schwiegen. Selbst unter den konfliktreichen Bedingungen der Jahre der Systemkonkurrenz blieb der Kontinent von neuen militärischen Konflikten zwischen den beiden politischen Blöcken verschont. Das freilich wäre im Rückblick nicht nur als eine Leistung der EU zu würdigen. Und es kann auch nicht vergessen werden, dass es seit Ende der 1990er Jahre einen Krieg in Jugoslawien gab, der nicht zuletzt von EU-Mitgliedsstaaten geschürt wurde. Doch ausgerechnet die „Befriedung des Balkans“ wird in der Begründung der Preisvergabe genannt.

Vor allem aber vermag die Osloer Entscheidung nicht zu überzeugen, wenn man das Augenmerk auf die gegenwärtige Europäische Union, ihre Politik und die ihrer Mitgliedsstaaten richtet. Weder hat sich die schon lange formulierte Kritik an der Militarisierung der EU-Außenpolitik erübrigt, noch ist die Rolle europäischer Staaten im weltweiten Rüstungswettlauf zu übersehen: Unter den zehn führenden Todesexporteuren sind mehrheitlich EU-Länder; wo immer weltweit Konflikte durch die Maschinerie der Waffenproduzenten genährt werden, ist Europa mit dabei.

Mehr noch: Die EU ist verantwortlich für die Durchsetzung eines Grenzregimes zur Abwehr von Flüchtlingen, das in den vergangenen Jahren an seinen Außengrenzen Hunderte, wenn nicht Tausende Opfer gefordert hat. Die Liste der Kritik an der Gemeinschaft ließe sich auf dem Feld der Handelspolitik fortsetzen. Was jetzt als friedensstiftender Beitrag der EU belobigt wird, stand in vielen Fällen unter dem Druck ökonomischer und hegemonialer Interessen.

Wer außerdem noch Fragen der sozialen Sicherheit, des solidarischen Ausgleichs und der ökologischen Wohlfahrt als Elemente, wenigstens als Voraussetzung für Frieden verstehen will, wird überdies mit Blick auf die von Deutschland dominierte Krisenpolitik der EU nicht von einem förderlichen Beitrag sprechen wollen. Die EU will in ihren Mitgliedsstaaten zudem die Vorratsdatenspeicherung verankern, sie verfolgt eine Politik, welche demokratische Rechte in den einzelnen Staaten aushöhlt und die Gefahr neuer sozialer Spaltungen befördert – mit allen denkbaren, ganz unfriedlichen Konsequenzen.

Offenbar hatte das Osloer Komitee nicht den Mut, sich statt für eine Institution des Oben für die Menschen da unten zu entscheiden – für die vielen Europäer, die in Athen, Madrid, Paris und anderswo für ein solidarisches Miteinander, für ein wirklich friedliches Europa demonstrieren. Das hätte dann vielleicht sogar jene Ermutigung sein können, von der nun so oft die Rede ist.

Nein, dieser Friedensnobelpreis ist keine gute Wahl. So hoch man die historischen Verdienste einschätzen mag – und eine mehr als 60 Jahre währende Periode des Friedens hatte es in Europa zuvor nur selten gegeben – so wenig darf aus dem Blick geraten, wofür die EU heute steht. Übrigens: Eine Verleihung, welche sich vorrangig auf die Vergangenheit bezieht, widerspricht dem Testament des Preisstifters genauso wie Vorratsvergaben wie im Falle des US-Präsidenten Barack Obama 2009. Alfred Nobel wollte, dass derjenige ausgezeichnet wird, der im jeweils vorherigen Jahr am meisten für den Frieden getan habe. Die EU war das mit Sicherheit nicht.

Quelle:   neues deutschland

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