Notstand in Ägypten
Militär räumt Protestcamps der Muslimbrüder. Hunderte Tote befürchtet. Kairo abgeriegelt. Zusammenstöße auch in anderen Städten
Von Sofian Philip Naceur, KairoIn Ägypten hat Übergangspräsident Adli Mansur am Mittwoch nach schweren Unruhen für einen Monat den Notstand ausgerufen. Zuvor hatten die Sicherheitskräfte mit der Räumung der Protestcamps der Muslimbrüder in der Hauptstadt Kairo begonnen. Mit äußerster Härte waren sie gegen die seit Wochen stattfindenden Demonstrationen an der Moschee Rabaa Al-Adawija in Nasr City im Osten Kairos und am Nahda-Platz in Giza vorgegangen. Die Zeltlager wurden von Armee und Polizei umzingelt, besetzt und mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Armee und Polizei setzten Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP sollen allein an der Rabaa Al-Adawija mindestens 124 Menschen getötet worden sein.
Fernsehbilder zeigen, wie vermummte Scharfschützen von Dächern nahegelegener Häuser auf die Menge schossen. Die Anhänger der Muslimbrüder warfen Steine und Feuerwerkskörper auf anrückende Polizeieinheiten. Militärhelikopter kreisten über der Stadt. Kairo wurde komplett abgeriegelt, um den Zustrom von Anhängern der Muslimbrüder in die Stadt zu unterbinden. Die Züge im Land wurden angehalten. Der Verkehr in der Hauptstadt brach zusammen, da Sicherheitskräfte in der gesamten Stadt Straßen und Brücken über den Nil sperrten.
Die Bruderschaft rief dazu auf, gegen die Brutalität der Sicherheitskräfte zu demonstrieren und Regierung und Armee aufzufordern »das Massaker zu stoppen«. Ihre Appelle, Widerstand gegen die Intervention der Sicherheitskräfte zu leisten und notfalls den Märtyrertod zu sterben, heizten die Gewalt weiter an. In mehreren Stadtvierteln Kairos formierten sich Protestzüge. Auch in Suez, Port Said, Alexandria und anderen Städten kam es zu Ausschreitungen zwischen Anhängern der Bruderschaft und der Polizei.
Die Regierung lobte die »Zurückhaltung« der Sicherheitskräfte bei der Räumungsaktion und machte die Protestierenden für die Eskalation der Gewalt verantwortlich. Die Muslimbrüder widersprachen. »Das ist kein Versuch, die Proteste zu räumen, sondern der blutige Versuch, alle oppositionellen Stimmen gegen den Militärputsch zu zermalmen«, sagte ihr Sprecher Gehad El-Haddad.
In Fayoum südlich von Kairo, einer Hochburg der Bruderschaft, wurden mindestens neun Menschen getötet. Im Süden des Landes sollen mindestens sieben Kirchen in Flammen aufgegangen sein. Die christliche Minderheit beschuldigt die Muslimbrüder, für die Übergriffe verantwortlich zu sein. Zudem häufen sich Angriffe auf christliche Geschäfte, allen voran denen des Mobilfunkunternehmens Mobinil, das dem christlichen Milliardär Naguib Sawiris gehört. Dieser soll im Frühjahr die Unterschriftenkampagne für die Absetzung von Mohammed Mursi als Präsident mitfinanziert haben.
Nach dem Scheitern internationaler Vermittlungsbemühungen vor gut einer Woche hatte die Bruderschaft erst am Montag Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dennoch haben sich die Falken im Armee- und Regierungsapparat durchgesetzt und eine »weiche« Auflösung der Protestcamps verworfen. Die Armee hat seit der Absetzung Mursis alles daran gesetzt, die Muslimbrüder zu dämonisieren, sie pauschal als »Terroristen« bezeichnet und ihnen die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt auf dem Sinai in die Schuhe geschoben. Das Militär setzt nun offen auf Konfrontation und stachelt die Bruderschaft erfolgreich zu Gegengewalt an.
Quelle: junge Welt vom 15.8.13
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