Palästina-Aktivist misshandelt und abgeschoben

«Ein Beamter trat mich in die Rippen und ins Gesicht»

Interview: Lynn Scheurer. Aktualisiert am 17.01.2014

Der Pro-Palästina-Aktivist Vincent Mainville wurde nach einem Vorfall mit israelischen Soldaten gestern nach Genf abgeschoben. Im Interview sagt der Schweizer, wie es dazu kam.

1/2 War über zwei Monate im Einsatz: Vincent Mainville.
Bild: International Solidarity Movement

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Vincent Mainville wuchs gemäss eigenen Angaben mehrheitlich in Kanada auf. Er besitzt den Schweizer Pass und flog von Genf aus nach Israel. Nach seiner Verhaftung und Abschiebung wurde er mit einem 10-jährigen Einreiseverbot für Israel belegt, das er mit einem Anwalt anfechtet. Mainville sagt, sein Ziel sei es, in der Schweiz eine ISM-Gruppe aufzubauen und bald wieder nach Israel zu reisen.

Sie sind Mitglied der pro-palästinensischen Organisation International Solidarity Movement (ISM) und wurden vor gut einer Woche in Hebron festgenommen. Gestern wurden Sie von den israelischen Behörden in die Schweiz abgeschoben. Was ist genau passiert?
Eine meiner täglichen Aufgaben als ISM-Mitglied war es, palästinensische Schulkinder durch die Checkpoints zu begleiten. Wir sind in solchen Situationen präsent und dokumentieren, wenn jemand ungerecht behandelt oder verletzt wird. Am 8. Januar bewarfen palästinensische Jugendliche israelische Soldaten mit Steinen, worauf diese mit Tränengas reagierten. Als mein Kollege und ich versuchten, die Soldaten daran zu hindern, wurden wir festgenommen.

Was geschah dann?
Wir verbrachten 18 Stunden am Stück in einer Zelle. Dann brachten uns die Polizisten zum Migrationsamt; sie wollten unsere Visa aufheben. Als mein Kollege und ich uns wehrten, trat mich ein Beamter des Migrationsamts in die Rippen und ins Gesicht. Die Verletzungen sind nicht so gravierend, dass ich ärztliche Hilfe gebraucht hätte. Aber es ist keine schöne Erfahrung, getreten zu werden, wenn man bereits mit Handschellen gefesselt ist. Als ich einem israelischen Richter kurz darauf davon erzählte, hat er es einfach ignoriert.

ISM behauptet, komplett gewaltfrei zu sein. Warum haben Sie die palästinensischen Jugendlichen nicht daran gehindert, Steine zu werfen?
Ich finde es nicht gut, wenn irgendjemand Steine wirft. Aber man muss verstehen, warum die Palästinenser dies tun. Angesichts der absurden Überlegenheit der Soldaten ist es ein Statement.

Trotzdem widerspricht dies doch der angeblich strikt gewaltfreien Philosophie des ISM.
Wenn die Palästinenser in dieser Situation wirklich gewalttätig gewesen wären, wären wir eingeschritten. Ich unterstütze keine Art von Gewalt, auch nicht solche, die sich gegen israelische Soldaten richtet.

Der Ruf des ISM ist umstritten. Gründungsmitglied Adam Shapiro schrieb laut einem Zeitungsbericht, der palästinensische Widerstand müsse mit friedlichen und gewalttätigen Mitteln erreicht werden.
Davon höre ich zum ersten Mal. Ich glaube, das ist einfach seine persönliche Meinung. Ich bin überzeugt, dass jedes ISM-Mitglied, das Gewalt anwendet, sofort ausgeschlossen würde. Das ISM zwingt auch niemanden, Einsätze zu leisten, bei denen man sich nicht wohlfühlt.

Haben Sie miterlebt, dass Mitglieder diese Freiheit beanspruchten?
Ja, ich habe mehrere Mitglieder kennen gelernt, die nach Hause zurückkehrten, weil ihnen die Situation zu angespannt war.

Sie blieben. Hatten Sie keine Angst, verletzt oder getötet zu werden?
Nein, hätten wir Angst, dann wäre das Ziel der Besatzer erreicht. Es gibt natürlich ein gewisses Risiko, aber das ist für internationale Aktivisten deutlich kleiner als für die Palästinenser.

Zwei junge Menschen starben bei ISM-Einsätzen: Die Amerikanerin Rachel Corrie und der Brite Tom Hundrall. Sind Sie bereit, Ihr Leben zu riskieren für den palästinensischen Widerstand?
Niemand möchte sterben, auch ich nicht. Aber diese Eventualität gehört zum Einsatz dazu. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist aber extrem klein, und die letzten Todesfälle beim ISM sind über zehn Jahre her.

Möchten Sie ein Held sein?
Darum geht es nicht. Wir sind dort, um zu dokumentieren und zu veröffentlichen, was mit der palästinensischen Bevölkerung geschieht. Traurigerweise braucht es verletzte Westler, damit Aufmerksamkeit für ihre Lage geschaffen wird.

Waren Sie bei Ihren Einsätzen bewaffnet?
Nein, ich besuchte den obligatorischen Anti-Gewalt-Kurs des ISM. Dort wurde uns beigebracht, wie man sich zu verhalten hat, wenn es Konflikte gibt. Hauptaufgabe der ISM-Mitglieder ist es, den Palästinensern zu helfen und Ungerechtigkeiten festzuhalten.

Wie tun sie dies?
Wir schreiben Berichte, filmen und machen Fotos. Das taten mein Kollege und ich auch bevor wir verhaftet wurden. Doch die israelische Polizei nahm uns die Kameras weg.

Wie kam es dazu, dass Sie sich dem ISM anschlossen?
Ich habe das nicht geplant; nach Israel gereist bin ich als Tourist mit zwei Schweizer Freunden. Eigentlich wollte ich nur zehn Tage bleiben, ich hatte auch ein Ticket für den Rückflug.

Israel ist keine typische Feriendestination.
Meine Freunde hatten mich dazu überredet, sie reisten nach den zehn Tagen aber zurück in die Schweiz, weil sie arbeiten mussten. Natürlich wusste ich um den Nahostkonflikt, aber erst als ich dort war, erfuhr ich auch emotional, was dies für die Menschen bedeutet.

Wurden Sie vom ISM angesprochen?
Ich kam auf der Strasse mit Mitgliedern ins Gespräch, davor hatte ich noch nie etwas von der Organisation gehört. Ich war sehr betroffen von den Ungerechtigkeiten, die ich sah, und wollte etwas tun – also schloss ich mich an.

Was erhoffen Sie sich von Ihrem Engagement?
Ziel unseres Einsatzes ist es nicht, die Besatzung zu beenden. Das müssen die Palästinenser selbst tun. Natürlich ist es nicht viel, was man als Einzelner beisteuern kann, aber wenn jeder von uns eine Woche vor Ort verbringen würde und die tägliche Demütigung und Unterdrückung der Palästinenser miterleben würde, wäre die Besatzung schnell vorbei. Davon bin ich überzeugt.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

Erstellt: 17.01.2014, 17:03 Uhr

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