Proteste in Bosnien

Kleine Zeitung, 9.2.2014: Ein erst zwölfjähriger bosnischer Bub wird verdächtigt als Mitglied einer Kinderbande Taschendiebstähle begangen zu haben. 16 Tage ist der Bub in U-Haft. Der Staatsanwalt verlangt eine Untersuchung der Geschlechtsorgane, um nachzuweisen, dass der Bub bereits 14 Jahre alt ist. Nur so wären U-Haft und Strafmündigkeit zu rechtfertigen. Der Richter lehnt das ab. Der weinende 12-jährige wird freigelassen und verschwindet irgendwo in Wien.

Diese traurige Geschichte sagt nicht nur genug über den Umgang dieses Staatsanwalts mit minderjährigen MigrantInnen aus, sondern ebenso über die aktuelle Situation in Bosnien-Herzegowina.


Die Demonstrationen der letzten Tage gegen die unwürdigen sozialen Zustände waren so zornig, dass sie auch von den Medien hierzulande thematisiert werden mussten. Ein Beamter in Tuzla kritisiert in derselben Zeitung den enormen bürokratischen Apparat in Bosnien. Das Land ist in 10 Kantone mit jeweils eigenen Verwaltungsstrukturen aufgeteilt.


Die Proteste der Bevölkerung haben sich in den letzen Tagen über das ganze Land ausgedehnt. In der Hauptstadt Sarajevo, in Zenica, Bugojno, Cazin, Bihać und vielen weiteren Städten wird demonstriert. Zehntausende begehren gegen ihre miserablen Lebensbedingungen auf. Die Arbeitslosigkeit liegt in Bosnien nahe 50%. Mehr als ein Fünftel der 3,8 Millionen BosnierInnen leben in Armut. Das Elend ist in manchen Gebieten so groß, dass die Menschen Hunger leiden. Es ist in Bosnien mittlerweile so wie in anderen Ländern, aus denen Menschen flüchten: Nur durch die Unterstützungen der im Ausland Geld Verdienenden ist das Überleben möglich.


Ausgelöst wurden die Proteste durch Privatisierungen von einigen der letzten Betriebe, die ein, wenn auch mageres Einkommen für die Arbeitenden und ihre Familien ermöglichten. Mit Privatisierungen ihrer Betriebe haben BosnierInnen genug Erfahrung. Der Ablauf ist meist derselbe, wie der Beamte aus Tuzla schildert: Käufer erwerben die Anlagen für einen symbolischen Euro, verkaufen dann Altmetalle und Immobilien und lassen die Ruinen zurück.


Der extreme Ausverkauf des Landes ist auf die Politik des Internationalen Währungsfonds zurückzuführen. Bosnien ist, so wie die anderen Länder Ex-Jugoslawiens auch, nach dem Krieg total in die Abhängigkeit dieses Kreditvergebers gefallen. Der IWF verlangt im Gegenzug zu seinen Raten Erhöhung der Steuerlasten, Privatisierungen und Rentenkürzungen. Bereits 2009 war es in Bosnien zu Massenprotesten von Kriegsversehrten gegen die Kürzung ihrer Renten gekommen. Der IWF musste daraufhin diese Forderung zurücknehmen.


Der kanadische Ökonom Chossudovsky analysiert die Politik des IWF in einem Artikel von 2009 folgend:

„Nach Schätzungen der bosnischen Regierung werden sich die Kosten für den Wiederaufbau auf 47 Milliarden $ belaufen. Westliche Kreditgeber sagten 3 Milliarden $ an Wiederaufbaukrediten zu, aber magere 518 Millionen $ wurden im Dezember 1995 gewährt. Ein Teil dieses Betrags wurde (gemäß den Bedingungen des Dayton-Vertrages) abgezweigt für die Abdeckung von Kosten für die IFOR wie für die Schuldenrückzahlung an internationale Kreditoren.

In einem bekannten Manöver wurden „frische Darlehen“ für die Rückzahlung „alter Schulden“ bereitgestellt. Die niederländische Zentralbank gewährte großzügig eine „Überbrückungshilfe“ in der Höhe von 37 Millionen $. Dieses Geld ist bereits für die Abdeckung von Verpflichtungen Bosniens gegenüber dem IWF bestimmt, weil es sonst vom IWF kein weiteres Geld mehr bekommt … (35). Es ist ein grausames und absurdes Spiel: die gefragten Mittel aus dem vom IWF neu geschaffenen „Katastrophenhilfe-Topf“ für sogenannte „Nachkriegsländer“ werden nicht für die Beseitigung von Kriegsschäden verwendet. Stattdessen müssen sie für die Rückzahlung an die niederländische Zentralbank verwendet werden, die das Geld für die Regelung des vorhergehenden Problems mit dem IWF zur Verfügung gestellt hatte … Während der Schuldenberg wächst, stehen keinerlei Mittel für den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Wirtschaft Bosniens zur Verfügung …“*


Die heutige Situation in Bosnien ist das Resultat dieser fortgesetzten Ausplünderungspolitik, die der Autor zu Recht als Rekolonialisierung bezeichnet.

Dafür sprechen auch politische und militärische Komponenten. Bosnien wird immer noch von einem „Hohen Repräsentanten“ überwacht. Dieser Mann, der Österreicher Valentin Inzko, hat das Recht, sämtliche demokratische Einrichtungen zu überstimmen. Die sogenannt freien und fairen Wahlen haben dieses Recht nicht angekratzt.


Bezeichnend ist auch, dass Bosnien und Herzegowina seit 2006 Mitglied der Nato „Partnerschaft für den Frieden“ ist. So ist es möglich, dass ein militärisches Kontingent eines Landes, das nicht einmal seine eigene Bevölkerung ernähren kann, in Afghanistan stationiert wurde.

Zugleich hat sich die Nato in Sarajevo mit einem Hauptquartier dauerhaft eingerichtet und sich die Präsenz mit einem Mandat absichern lassen, welches ihr die Mitwirkung an einer „Verteidigungsreform als Vorbedingung für die Integration in die europäischen und internationalen Institutionen“ garantiert.

Unter dem Vorwand der unsicheren Situation sind zudem 1000 EUFOR-Soldaten nach wie vor in Bosnien stationiert.


Es sind nun 20 Jahre seit Kriegsende vergangen. Die Hoffnungen der Menschen auf Friede, Freiheit und Wohlstand haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Von der EU und internationalen Organisationen durchgeführte Reformen von Verwaltung, Finanz und Politik haben sich als Luftballons, gefüllt mit einem giftigen Gemisch aus Besatzung, Ausplünderung und Korruption herausgestellt. Der bosnische Frühling bringt einen neuen Wind. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit steht dabei an erster Stelle.

*http://antikrieg.com/aktuell/2014_02_08_dieaufsplitterung.htm

HSuleiman, 9.2.2014

Kommentieren

Du musst angemeldet sein, um kommentieren zu können.