Feindbild Rußland
100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg: Imperialismus reloaded?
Von Peter Strutynski
Wenn Moskau Wasser und Medikamente in die Ostukraine liefert, ist von »angeblichen Hilfslieferungen« die Rede – zweiter Konvoi am Sonntag in der Region Rostow
Foto: Sergey Pivovarov/RIA Novosti/dpa/Bildfunk
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Mehr als 2600 Menschen sind laut UNO im Ukraine-Konflikt getötet worden – viele der Opfer gehen auf das Konto der anhaltenden Angriffe der Streitkräfte und ihrer Milizen gegen Aufständische und Zivilbevölkerung in den östlichen Landesteilen, von der Übergangsregierung in Kiew als »Terroristen« verteufelt, in den Medien hierzulande als »prorussische Separatisten« abgestempelt. NATO und EU treiben ihre Osterweiterung bis an die Grenzen Rußlands voran und bauen ihre militärischen Fähigkeiten weiter aus. Mit Rußland und Wladimir Putin haben sie sich ein neues Feindbild geschaffen. Im Kölner PapyRossa-Verlag ist dazu gerade der Sammelband »Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Rußland und der Westen« erschienen. jW dokumentiert anläßlich des Antikriegstages auszugsweise die Einleitung des Herausgebers Peter Strutynski.
Der Absturz (oder war es ein Abschuß?) eines malaysischen Passagierflugzeugs über ostukrainischem Gebiet am 17. Juli 2014 wird den Konflikt in der und um die Ukraine aufs Neue entfachen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, wer denn nun die Verantwortung für dieses schreckliche Ereignis trägt. Für den Westen schien die Schuldfrage von Anfang an ohnehin geklärt zu sein. In Verlautbarungen aus dem Weißen Haus und aus dem NATO-Hauptquartier in Brüssel wurde postwendend Rußland verantwortlich gemacht. In der entsprechenden Erklärung aus Washington hieß es unter anderem: »Obwohl wir noch nicht über alle Fakten verfügen, wissen wir doch, daß dieser Zwischenfall im Kontext einer Krise in der Ukraine geschah, die durch die russische Unterstützung für die Separatisten befeuert wird, was Waffen, Material und Ausbildung einschließt.« (www.whitehouse.gov, 17.7.2014.) Und NATO-Generalsekretär Rasmussen tönte am selben Tag: »Vieles ist ungeklärt über die Umstände des Absturzes. Dennoch: Die Instabilität in der Region, verursacht durch von Rußland unterstützte Separatisten, hat eine zunehmend gefährliche Situation heraufbeschworen.« (NATO-Press Release, 17.7.2014.)
Von diesen prompten Schuldzuweisungen unterschied sich die Reaktion der Bundesregierung nicht nur in Nuancen. In zwei Stellungnahmen (die erste vom 18., die zweite vom 19. Juli) forderte sie eine schnelle Aufklärung des Flugzeugabsturzes und einen beiderseitigen Waffenstillstand. Nicht Rußland, sondern die »ukrainischen Separatisten« waren damit in die Pflicht genommen. Die zweite Erklärung war abgegeben worden, nachdem Bundeskanzlerin Merkel mit dem russischen Präsidenten am Morgen des 19. Juli telefoniert hatte. Beide waren sich »einig, daß es rasch ein direktes Treffen der Kontaktgruppe mit den Separatisten geben müsse, um einen Waffenstillstand zu vereinbaren«.
Rückfall in Kalten Krieg
Das ist in der Tat ein anderer Ton, der hier an-, und eine in Teilen andere politische Richtung, die hier eingeschlagen wird. Die »Kontaktgruppe« besteht aus Vertretern der Ukraine, Rußlands und der OSZE; und die Kiewer Übergangsregierung hat es bis dato stets abgelehnt, mit den »Separatisten« zu verhandeln – auch der zuvor von Kiew angebotene »runde Tisch« sollte ohne die Aufständischen aus dem Donbass tagen und war damit von Anfang an eine Alibiveranstaltung, die sich deshalb auch sehr schnell erübrigte. Die Bundesregierung spielt also ein mehrfaches Spiel: Einerseits war und ist sie im Ukraine-Konflikt stets Partei für die prowestlichen Kräfte um die Übergangsregierung, wobei sie weder deren verfassungswidriges Zustandekommen noch deren rechtsradikale und faschistische Unterstützung problematisierte. Damit setzt sie sich andererseits nolens volens in Widerspruch zum russischen Präsidenten, der im Ukraine-Konflikt aus sicherheitspolitischen und gewiß auch innenpolitischen Gründen eine weitere Ostverschiebung der EU und der NATO verhindern will. Zum Dritten ist sie seit Jahren treibende Kraft bei der Ausweitung ihres ökonomischen und politischen Einflusses in Südost- und Osteuropa: Die Zerschlagung der jugoslawischen Föderation in den 90er Jahren ging maßgeblich auf das Konto der deutschen Außenpolitik; aus der Osterweiterung der EU mittels Vollmitgliedschaften und Assoziierungsverträgen – neben Ukraine neuerdings auch mit Georgien und Moldau – kann Deutschland als stärkste ökonomische Macht der EU den meisten Honig saugen. Viertens aber muß Berlin – ebenfalls aus ökonomischen Gründen – an guten und stabilen Beziehungen zu Rußland interessiert sein. Dabei geht es nicht nur um Energiesicherheit (die Gas- und Öllieferungen aus Rußland werden perspektivisch rückläufig sein), sondern auch um einen interessanten Absatzmarkt, der größer ist als alle seit den 90er Jahren in die EU aufgenommenen Staaten, und um ein großes Terrain für deutsche Direktinvestitionen.
In zahlreichen Veröffentlichungen zur Ukraine-Krise wird vor einem Rückfall in den Kalten Krieg gewarnt oder werden gar Erinnerungen an die europäische Mächtekonstellation vor dem Ersten Weltkrieg wach gerufen. An beidem ist etwas dran – beides führt aber auch in die Irre. In der Periode des Kalten Kriegs standen sich zwei militärisch annähernd gleich starke Supermächte nebst ihren Satelliten gegenüber und garantierten den Weltfrieden im Großen. Unterhalb dieser auf atomarer Abschreckung basierenden Übereinkunft, keinen Krieg gegeneinander zu führen – weil das zum Untergang beider Mächte und wohl auch der ganzen Menschheit geführt hätte –, erlebten wir zahlreiche »kleine« Gewaltkonflikte und Bürgerkriege, in denen es meist um die Befreiung aus kolonialer Abhängigkeit und/oder um Sezessionsbestrebungen ging. Die Großmächte waren an ihnen in der Regel nur indirekt beteiligt (sogenannte Stellvertreterkriege). Außerdem fanden diese innerstaatlichen Kriege in der Peripherie statt; Europa war eine schwerbewaffnete Insel des zwischenstaatlichen Friedens. Diese Konstellation gab es mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts nicht mehr – und prompt kehrte der Krieg nach Europa zurück. Rußland, der Nachfolgestaat der UdSSR, verfügt heute nicht mehr über den damaligen Cordon sanitaire (in Form der vorgelagerten Bündnisstaaten), während der frühere Gegner, die NATO, ihm immer näher rückt. Dabei nehmen die neuen NATO-Mitglieder (insbesondere die baltischen Staaten, Polen und Rumänien) gegenüber Rußland eine sehr viel unversöhnlichere Position ein als die alten EU-Mitglieder.
Der historische Rückgriff auf die Situation vor dem Ersten Weltkrieg ist vor dem Hintergrund des Medienhypes um die Hundertjahrfeiern verständlich, weist aber ebenfalls in eine falsche Richtung. Gewiß: Wenn wir die heutige Welt unter dem Aspekt der ökonomischen Formierung betrachten, sehen wir – ähnlich wie zu Zeiten des klassischen Imperialismus – nur noch kapitalistische Staaten (von wenigen Ausnahmen, z. B. in Lateinamerika, abgesehen), die mehr oder weniger korporatistisch, mehr oder weniger wohlfahrtsorientiert, mehr oder weniger neoliberal verfaßt sind.
Die wichtigste Veränderung auf dem europäischen Schauplatz liegt darin, daß alle früheren imperialistischen Mächte (außer Rußland) heute in einem Wirtschafts- und Militärblock vereinigt sind – was sie friedlich untereinander, aber nicht friedlich nach außen macht.
Sprachrohre und Verstärker
In einer sehr aufwendigen Dissertation hat der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger die enge Verzahnung von Politik, Wirtschaft und »Elitejournalisten« herausgearbeitet und festgestellt, daß die Leitmedien hauptsächlich die Diskussion innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten abbilden (»Meinungsmacht. Der Einfluß von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse, Köln 2013). Es ist interessant zu sehen, daß dieselben Journalisten, die Krüger als Teil des transatlantischen Elitenetzwerks ausgemacht hat, den Absturz der malaysischen Passagiermaschine zum Anlaß nehmen, den russischen Präsidenten vorzuverurteilen. »Das Monster, das Putin schuf«, verkündete Stefan Kornelius in seinem ersten Kommentar zu der Katastrophe (Süddeutsche Zeitung, 19.7.2014). Folgerichtig wird die EU zu einer härteren Gangart gegenüber Rußland gedrängt. Nicht nur an der Sanktionsschraube müsse weiter gedreht werden (so Stefan Kornelius in der SZ vom 22.7.2014), auch die Wehretats des NATO-Bündnisses dürften »nicht länger sinken« (so Stefan Ulrich in der SZ vom 21.7.2014). Und in der Zeit (Onlineausgabe, 18.7.2014) wird prophezeit: »Dieser Abschuß verändert alles«; was damit gemeint sein könnte, gibt der Kommentator Carsten Luther unverblümt preis, wenn er schreibt, die Beteiligung westlicher Kräfte an den Militäroperationen der Kiewer Regierung seien nun »kein Tabu mehr«. Das fügt sich in die kritische Medienanalyse: Die Leitmedien sind einerseits Sprachrohre, Verstärker und willfährige Instrumente der herrschenden Politik und schießen andererseits im wahrsten Sinn des Wortes über das Ziel hinaus, indem sie die Politik zu mehr militärischer Aktion aufstacheln.
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