Gibt es die Orte von Gut und Böse?
In den Tagen nach den Attentaten von Paris haben sich Medien und Politik überboten im Zuweisen von allem Grausigen, Bösen und Furchtbaren an die Adresse des Islam – von den halbherzig nachgeschobenen Unterscheidungen zum Islamismus oder „Mehrzahl der friedliebenden Muslime“ einmal abgesehen. Denn tatsächlich wollten viele in diesem Schrecken den letzten Beweis für die dieser Religion innewohnende Gewalt sehen.
Das Entsetzen mag auch an der Geografie liegen. Denn solche Attentate mitten in Frankreich – säkularer Nabel Europas – gab es schon lange nicht mehr. Heute muss nicht viel darüber nachgedacht werden, warum eine Satirezeitung angegriffen wurde. Die Täter, obwohl Franzosen, hatten einen arabischen Hintergrund und sie waren Muslime. Dass die Angreifer nicht aus der französischen Mehrheitsgesellschaft kamen und ihre Rechtfertigung eine religiöse war, vereinfachte die totale Distanzierung. Motiv und Täter wurden ausserhalb Frankreichs verortet. Der Boden war bei Politikern und ihren Wählern dafür bereitet. Schließlich liegen zwischen dem Maghreb und Frankreich Jahrzehnte grausamer Kolonisation, die sich in der Ungleichbehandlung der Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien fortschreiben. Sarkozy wandte sich mit dem Hochdruckreiniger gegen die revoltierende Jugend der banlieues und kein Politiker, egal ob aus dem rechten oder linken Lager, hält sich zurück, wenn es darum geht Rohstoffe am afrikanischen Kontinent auch mit Waffengewalt zu erobern.
Die Attacken von Paris nimmt sich das offizielle Frankreich zum Anlass diese Politik zu intensivieren, jetzt noch gestärkter durch den Rückhalt der wahlberechtigten und privilegierten Klassen im eigenen Land. Prompt wurde ein nuklearer Flugzeugträger in den Persischen Golf abkommandiert.
Dabei ist es genau dieser fortgesetze Kolonialismus durch Frankreich, die anderen Wohlstandsstaaten der EU und die USA, die es einem verbieten, den einfachen Zuweisungen von Gut und Böse Folge zu leisten.
Sklaverei, Ausbeutung, Ausrottung ganzer Bevölkerungen, Giftgaseinsätze, Erprobung von Medikamenten, Austesten von Waffensystemen – wie zuletzt durch Israel an der palästinensischen Zivilbevölkerung – das waren und sind Praktiken des Kolonialismus.
Die Sklaven von heute treten uns mit dem Gesicht von Kindern gegenüber, die in dunklen Bruchbuden den Profit der westlichen Modeindustrie erarbeiten. Oder in Minen der Zulieferindustie unter lebensbedrohlichen Umständen für Handys und PC Rohstoffe schürfen.
Sklaven der Moderne treffen wir auf den Gemüseplantagen in Spanien, wo sie ahnungslos jene Tomaten ernten, die als Konserven billigst in ihre Heimatländer importiert werden um damit auch noch den letzten Bauern um seine Einkünfte zu bringen. Sodass sich auch er übers Mittelmeer aufmachen muss, um letztlich unter einer Plastikplane gefangen zu einem Hungerlohn arbeitend, weder zurück nach Hause noch woandershin fortgehen kann.
Sklaven von heute sind jene Frauen, die in die Sexindustrie gezwungen werden und es es sind jene, die für EU-Mittelsstandsfamilien Hausarbeit und Pflege verrichten, Tag und Nacht, jederzeit kündbar und abschubgefährdet.
Und es sind noch viele mehr auf dieser Welt, die durch ungerechte Handelsbedingungen, Waffenhändler und massenweise Land aufkaufende Investoren in ihrer Existenz bedroht sind.
Es ist schlimm und verturteilenswert, was in Paris geschehen ist, keine Frage. Die Menschen empören sich zu Recht. Und doch drängt sich ein bitterer Beigeschmack auf, denn:
Die Empörung über die Foltermethoden in Guantanamo und in vielen Nato-Ländern (auch in der EU!) hat nicht annähernd solche Wogen geschlagen.
Auch das Bombardement der Zivilbevölkerung im abgesperrten Gazastreifen im vergangenen Sommer blieb ohne Konsequenz für den Aggressor Israel.
Als in Ägypten die frühlingshafte Demokratie durch einen Militärputsch vernichtet wurde, hat die EU geschwiegen, wie sie auch die seitdem tausenden Gefangenen und Todesurteile verschweigt.
Es gibt deswegen keinen Protest auf den Strassen Europas.
Leider hören wir auch nichts über EU-weite gewerkschaftliche Solidaritätsaktionen mit Streikenden in anderen Teilen der Welt, obwohl dadurch viel an gobaler Gerechtigkeit erkämpft werden könnte.
Sich als besserer Mensch in einer besseren Gesellschaft zu fühlen, ist sicher ein angenehmes Gefühl. Wer die Wohlfühlzone verlässt, setzt sich unweigerlich dem unberechenbaren Klima am Rand des gesellschaftlichen Konsens aus. Dort reichen simple Einteilungen in „Gut und Böse“ als Erklärungsmuster nicht mehr aus. Nur die Zurückweisung der dargebotenen Projektionsflächen „Islam und Muslime“ ermöglicht eine weniger verstellte Sicht auf die Realitäten hinter den Attentaten von Paris. Erst dann kann über wirklich gerechte Lösungen für Krieg und Konflikte nachgedacht werden, denn: Kein Mensch hat mehr Recht auf Gerechtigkeit als irgendein ein anderer auf der Welt.
Nicht dass es neu wäre, dass „der Islam“ und mit ihm „die Muslime“ als Projektsfläche für alles das herhalten sollen, was europäische Mittelschichtsgesellschaften nicht sein wollen;- aber jetzt wurde eine neue Stufe der Zuschreibungen erreicht.
Die Gewalt der Sprache war extrem. Dort der Ort des Bösen mit Barbaren, Schlächtern aus dem Mittelalter. Gegen sie gilt es den Hort des Guten hier zu verteidigen: Menschenrechte in einer aufgeklärten säkularen Demokratie.
von Helga Suleiman
http://www.haberjournal.at/de/gibt-es-die-orte-von-gut-und-bose-makale,60.html
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