Underdog-Salafismus-mit-Elementen-vom-Rap

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Kenan Güngör über islamistische Radikalisierung junger religiöser Analphabeten und die dem Koran immanente Gewalttheologie

STANDARD: Zwei britische Möchtegern-Jihadisten kauften vor ihrer Reise nach Syrien bei Amazon ausgerechnet „Islam for Dummies“ und „The Koran for Dummies“. Welche Rolle spielt Religion bei islamistischer Radikalisierung? Güngör: In der Vorphase ist nicht die Religion das entscheidende Moment, danach immer mehr. Da spielen auch andere Faktoren eine gewichtige Rolle. Jugendliche suchen nach Sinn, Halt und Orientierung in einer für sie sinn- und orientierungsentleerten, diffusen Welt. Jugendliche Leidenschaft, die Lust etwas radikal Neues zu probieren, das vorhandene Norm- und Sozialgefüge zu hinterfragen und auszubrechen kennen wir aus anderen jugendkulturellen Protestbewegungen. Wenn sie dann in einen Nahkreis von salafistischen Bewegungen kommen, gibt es dieses Angebot plötzlich. Die meisten dieser Jugendlichen sind nicht nur religiöse Analphabeten, sondern auch eher marginalisiert, was Bildung und Perspektiven anbelangt, sie haben das Gefühl, auf der Verliererseite zu sein. Sie bekommen nun das Angebot für soziale Wärme, Anerkennung und Aufgehobensein in einer absoluten Gemeinschaft mit absoluter, über allem stehender Wahrheit und Mission. Das gibt vormals Unterlegenen ein Überlegenheitsgefühl. Zum Teil haben sie auch Kriminalitätskarrieren hinter sich, aber vor allem das Gefühl: Eigentlich interessiert sich keiner für mich. Da setzt das salafistische Streetwork an. STANDARD: In welcher Form? Güngör: Sie zeigen Interesse an diesen Menschen und verwickeln sie in Gespräche über grundsätzliche Sinnfragen. Sie sprechen das metaphysische Vakuum an: Was ist nach dem Leben? Dass die Welt, in der wir leben, eigentlich nur ein transitorischer Raum ist und das Eigentliche erst danach kommt. Dann werden sie eingeladen: Komm doch mal zu uns. Das ist wie ein Freundschaftskreis, der Wärme gibt in einer klimatisch doch eher lauen oder tendenziell kalten, an ihnen desinteressierten Gesellschaft. Du bekommst nirgendwo so schnell Anerkennung wie in den salafistischen Kreisen. Vom Niemand bist du auf einmal wer in einer exponierten Stellung. Du bist für uns wichtig, und wir sind so etwas wie eine heilige, berufene Gruppe, die für etwas Höheres steht, mit einem fast göttlichen Auftrag. Das ist eine massive Statusaufwertung und gleicht ihr Anerkennungsdefizit aus. STANDARD: Und die Religion? Güngör: Das religiöse Element kommt in der zweiten Phase sehr stark in der Form: Wie soll gelebt werden? Was ist das wahre Leben? Sie sagen ihnen: Das Einzige, was du im Leben musst, ist, an Gott und sein Buch zu glauben. Da steht die Wahrheit drin. Nicht alle lesen wirklich, und wenn ja, nur bruchstückhaft, aber es wird nur mit Suren herumgeschmissen. Gerade jene, die nicht sehr stark reflektieren und wenig gebildet sind, sind für klare, eindeutige Passagen empfänglicher. Daher kommen die starken Imperative, was zu tun und was zu lassen ist. Was wahr, was wirklich muslimisch und vor allem was nicht muslimisch ist, nämlich das Unreine, das Böse. Und wer sich nicht dran hält, dem kommen sie mit dem schlechten Gewissen: Wenn du wirklich ein wahrer Muslim bist: Wie lebst du denn eigentlich? Das, was dein Leben ist, ist nur ein Nichts. Da hast du nichts mehr. Es findet eine massive Entwertung des Lebens und der Jetztzeit zugunsten der Unendlichkeit statt. STANDARD: Die Teenager, die sich jetzt radikalisieren, sind fast alle zweite oder dritte Einwanderergeneration, mitunter auch österreichische Staatsbürger-/innen. Ist es auch ein Generationenkonflikt? Güngör: Diese Gruppen haben auch sehr viele jugendkulturelle Elemente. Das sind Peers, die verstehen ihre Lebenswelt, die sprechen häufig das gleiche schlechte Deutsch. Anders als im Nahen Osten ist es hier fast so ein Underdog-Salafismus mit Elementen vom Rap, wo es um Benachteiligung geht. Es geht auch um ein Ungerechtigkeitsempfinden. Wir und die Muslime im Nahen Osten werden unterdrückt, sind verwestlicht, dekadent, vom wahren Glauben abgekommen und müssen uns gegen die inneren und äußeren Feinde wehren. Das ist der Unterschied zur ersten Generation der Migranten, die zwar unter deutlich schlechteren Lebensbedingungen lebte, aber genügsamer, geduckter, demütiger war. Es ist auch eine auflehnende Abgrenzung: Wir sind nicht mehr die Demütigen, wir sind die Unduldsamen, wir provozieren, sind aktiv. Der Bruch damit, die Provokation ist ein Aspekt, aber ich warne davor, Jihad nur als jugendkulturellen Protest zu beschreiben. STANDARD: Welche Rolle spielen die Eltern bei der Radikalisierung? Güngör: Es gibt eine sehr große Gruppe, wo die Eltern weniger religiös sind und die Kinder auf einmal immer religiöser werden. Die sind erst einmal irritiert. Die einen fragen: Sag mal, was hast du mit Religion zu tun? Die anderen sagen: Ach, das ist schön, wenn dein Leben mal ein bisschen Ordnung kriegt. Wichtig wäre, nicht gleich in Alarmismus zu verfallen, sondern das als Signal zu sehen und zu versuchen, über Empathie in ein vertrauensvolles Gespräch zu kommen. Wir haben Jugendliche, die das wie eine Inkubationszeit sehr introvertiert durchmachen, die sich hinter Facebook und in Social Media verstecken, wo die Eltern sehr wenig wissen, aber die irgendwann doch rauskommen und sprechen. Meistens werden die Eltern dafür getadelt, dass sie nicht oder nicht ausreichend religiös sind. Und es gibt die Gruppe, die eher überwiegt, die sehr mitteilsam und missionarisch ist und Familie und Freunde überzeugen will. Die verstecken sich nicht. STANDARD: In der aktuellen Debatte heißt es oft: Das alles hat mit dem Islam an sich nichts zu tun. Kann man das wirklich so sagen? Güngör: Die Aussage „Es ist nur der Islam“ ist genauso falsch wie die Aussage „Es hat nichts mit dem Islam zu tun“. Es wäre genauso absurd, wenn wir sagen würden, die RAF hat nichts mit dem Sozialismus zu tun oder der Faschismus nichts mit dem Nationalismus. Alles, was al-Bagdadi (der Anführer der Terrororganisation „Islamischer Staat“, Anm.) gegenwärtig sagt, findet sich in Suren wieder. Dieses „Es hat nichts mit dem Islam zu tun“ hat damit zu tun, dass man die Muslime, die sowieso unter Generalverdacht stehen, davor schützen möchte, was ich verstehe. Aber sachlich ist das nicht haltbar. Innerislamisch verfallen wir, solange wir so reden, einer schützenden Selbstgerechtigkeit, die jede Form selbstkritischer Auseinandersetzung verunmöglicht. Wenn wir daraus lernen wollen, müssen wir die kritische Frage stellen: Auf welche religiösen Quellen, Interpretationen und Strömungen, die solche abartigen Formen produzieren, stützt sich das, und was kann man dagegen tun? Solange der Koran von seiner immanenten Gewalt- und auch Unterwerfungstheologie nicht befreit, sondern alles sakral einzementiert wird, ist eine humanistisch-aufklärerische Weiterentwicklung des Islam nicht möglich. Das halte ich für problematisch. STANDARD: Was kann oder soll die organisierte muslimische Community tun? Güngör: Diese salafistischen Netzwerke sind relativ abgekoppelt, das geht übers Internet und ihre kleinen Moscheevereine. Für die sind die anderen Strukturen zu alt, zu verkrustet. Deswegen haben sie wenig Einfluss auf diese Gruppen. Außerdem haben wir das Problem, dass viele der Organisierten gesagt haben, das hat nichts mit uns und dem Islam zu tun. Sie nützen die Möglichkeiten nicht, die immanente Gewalt und Unterwerfungstheologie, die drin ist und die die Jihadisten in der radikalsten Form auslegen, kritisch zu reflektieren. Was die Vorstellung von Gut und Böse, vom Reinen und Unreinen, von der westlichen Welt oder den Umgang mit Geschlechtertrennung betrifft, haben sie vielmehr einen großen Überschneidungsbereich. Über diese Schnittmengen müssen wir uns Gedanken machen. Das Problem der muslimischen Länder, nicht nur Saudi-Arabiens, ist gegenwärtig, dass sie ein Abgrenzungsproblem zur IS haben, weil sie sich fast auf das Gleiche beziehen. Nur die Jihadisten sagen, wir kämpfen dafür, und ihr geht mit denen im Westen ins Bett. STANDARD: Wer soll die geforderte aufklärerische Islamkritik leisten? Güngör: Die gesamte Gesellschaft ist gefordert. Ein großer Teil der organisierten Muslime hat tendenziell eher eine konservativere Lesart als die gegenwärtig noch marginalen, aufklärerischen Theologen und Intellektuellen, die aber viel anschlussfähiger wären bei einem großen Teil der Alltagsmuslime – und die gilt es zu gewinnen. 70 Prozent der Muslime sind nicht organisiert, sie leben sehr oft viel moderater, als die Vorstellungen der Organisationen sind. Darum dürfen wir es nicht auf einen interreligiösen Dialog reduzieren, sondern es ist ein gesellschaftlicher Diskurs notwendig. Da stehen wir noch am Anfang. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 16.2.2015) Kenan Güngör, geb. 1969 in Tunceli/Türkei, kam mit sieben Jahren nach Köln, studierte in Wuppertal Soziologie, ging 2000 nach Basel, 2007 nach Wien, wo er „think.difference“, ein Beratungs- und Forschungsbüro, gründete. Er erarbeitete Integrationsleitbilder für Tirol, Vorarlberg, Oberösterreich und Basel, Dornbirn, Amstetten. Am Donnerstag (19. 2., 19 Uhr) spricht er bei der vom Zoom-Kindermuseum und STANDARD organisierten Zoom Lecture über Jugendkultur und religiösen Extremismus. – derstandard.at/2000011739865/Soziologe-Kenan-Guengoer-Underdog-Salafismus-mit-Elementen-vom-Rap

Siehe auch:

zur islamistischen Radikalisierung junger religiöser Analphabeten: http://derstandard.at/2000011739865/Soziologe-Kenan-Guengoer-Underdog-Salafismus-mit-Elementen-vom-Rap
zu islamischen Kinderärten und dem reflexartigen Vorwurf der Islamophobie: http://derstandard.at/2000027954186/Integrationsexperte-Bildungsministerium-soll-Kindergaerten-kontrollierenJede-Kritik-wird-als-Islamophobie-diskreditiert

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