Arnold Hottinger

Failes States – Teil 4

LYBIEN

Failed States – Teil 4

Von Arnold Hottinger, 13.03.2017

Die Region von Libyen bis Pakistan und von Somalia bis zum Irak zeigt vergleichbare Erscheinungen des Niedergangs. – Ein zeitgeschichtlicher Überblick in sechs Teilen.

Der Zusammenbruch staatlicher Ordnungen zeigt sich in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens in unterschiedlichen Stadien und Ausprägungen. Die ersten drei Folgen dieser Serie handelten von generellen Ursachen des Scheiterns und von den Beispielen Somalia, Afghanistan und Jemen.

LIBYEN

Ursache des Staatszerfalls in Libyen ist der Dauerstreit von bewaffneten Gruppen, Milizen genannt. Dieser Streit entwickelte sich aus der nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar Ghaddafis entstandenen Lage. Der Machtwechsel war durch Zusammenarbeit der zahlreichen bewaffneten Gruppen freiwilliger „Revolutionäre“ mit den Luftwaffen der Nato-Staaten zustande gekommen. Die Kämpfe hatten sechs Monate lang gedauert. Doch als sie zu Ende kamen, gab es zahlreiche Milizen, die nicht bereit waren, ihre Waffen niederzulegen und ins zivile Leben zurückzukehren. Sie begründeten ihre Haltung mit der angeblichen Notwendigkeit, „die Revolution“ abzusichern und weiterzuführen.

Wohin die Revolution führen sollte, hing von den ideologischen Überzeugungen der einzelnen Gruppen und ihrer Anführer ab. Islamisten gemässigter und radikaler Ausrichtung waren Feinde Ghaddafis gewesen, hatten zusammen in seinen Gefängnissen gesessen und schritten beim Ausbruch der Revolution sofort zur Bildung von Kampfgruppen, indem sie ihre alten Netzwerke mobilisierten. Auch politische Parteien und Gruppierungen wurden nach dem Sturz Ghaddafis gebildet. Sie schritten schon bald nach europäischem Vorbild zur Formulierung einer Verfassung und zu Parlamentswahlen.

Der Bock als Gärtner

Doch es stellte sich rasch heraus, dass die bewaffneten Gruppen ihrerseits der Ansicht waren, sie hätten ein Recht, sogar eine „revolutionäre Pflicht“, in der Politik mitzureden. Da sie über Waffen verfügten, waren sie in der Lage, auf die Politiker Druck auszuüben, um ihre von Gruppe zu Gruppe stark divergierenden politischen Meinungen durchzusetzen. Parlamentarier und Parteipolitiker versuchten, diesem Druck zu widerstehen und die prekäre Sicherheit der Nachkriegszeit zu stärken, indem sie mit einzelnen Milizen – oder auch mit ganzen Verbünden von solchen – Verträge abschlossen. Dadurch erhielten Milizen Aufträge, die Sicherheit im Lande und jene der Parlamentarier zu gewährleisten. Der Bock wurde zum Gärtner gemacht.

Ein funktionierendes Heer und einsetzbare Polizei gab es nicht, da diese Ghaddafi gedient hatten und niedergekämpft worden waren. Da Libyen damals noch über Geld verfügte, erhielten die in den Dienst des Staates genommenen Milizen staatliche Gelder für Sold und Unterhalt. Die Möglichkeit, auf diesem Weg Beschäftigung und Einfluss zu finden, förderte die Bildung immer neuer Milizen. Mit der Behauptung, auch sie hätten gegen Ghaddafi und seine Soldaten gekämpft, erhoben sie Anspruch auf Unterstützung des Staates und auf ein Mitspracherecht in der Politik. Sie, so ihre Rhetorik, müssten dafür sorgen, dass der Staat „revolutionär“ bleibe und nicht erneut den alten Machthabern aus der Zeit des Tyrannen anheimfalle.

Bald schon entdeckten die Milizenführer, dass die Politiker sich von den Waffenträgern einschüchtern liessen. Die Parlamentarier ihrerseits begannen mit gewissen Milizen, die ihren politischen Ausrichtungen entsprachen, Bündnisse abzuschliessen nach dem Muster: Wir beide verfolgen gemeinsame politische Ziele – ihr mit den Waffen, wir mit unseren Stimmen im Parlament.

Doch die sich auf diese Weise fanden, waren ungleiche Partner. Die Milizenchefs erkannten immer klarer, dass sie im Konfrontationsfall dank ihrer Waffen die Stärkeren waren. Der Gesamteffekt in den ersten zwei Jahren des neuen parlamentarischen Regimes war, dass die Parlamentarier entweder abtreten mussten oder dass sie in stets wachsendem Masse gezwungen waren, den Wünschen der Milizen entsprechend zu handeln und abzustimmen.

Islamistische und säkulare Milizen

Die Lage wurde dadurch kompliziert, dass die Milizen untereinander rivalisierten und unterschiedliche Ziele anstrebten. Unter den Milizen gab es solche, die ein säkulares Regime befürworteten, aber andere forderten fanatisch einen „islamischen“ Staat. Wenn es zu Bündnissen zwischen Milizen kam, schlossen sie sich meist entsprechend dieser Trennungslinie zusammen. Andere Trennungen und Gruppierungen verliefen nach der örtlichen Zugehörigkeit und nach Stämmen.

Die Einmischung der Milizen und ihrer Anführer in die Belange des Parlamentes nahm stetig zu. Mehrmals wurden die Parlamente unter dem Druck bewaffneter Milizen stillgelegt. Andere Male stimmten sie mehrheitlich nach deren Wunsch und Begehren. Im Februar 2014 erklärte der damalige Kommandant der im Aufbau begriffenen libyschen Armee, Khalifa Haftar, das Parlament als geschlossen. Er begründete seinen Aufruf damit, dass dieses Parlament seine Mandatsdauer überschritten und zu Unrecht für eine Verlängerung seines Mandates gestimmt hätte. Der Eingriff des Generals wurde als versuchter Staatsstreich zurückgewiesen. Parlament und Regierung blieben zunächst weiter im Amt.

Zwei rivalisierende Strukturen

Haftar und seine Anhänger gehörten zu der säkularen Tendenz, das damalige Parlament stand unter dem Einfluss der Muslimbrüder. Haftar nannte seine politisch-militärische Ausrichtung „Operation Würde“, und er fuhr fort, Offiziere und militärische Gruppen für sie zu gewinnen. Als es schliesslich im Juni 2014 zu Neuwahlen kam, erlitten die Muslimbrüder und andere islamistische Gruppen (d. h. solche die einen Islamischen Staat anstrebten) eine deutliche Niederlage. Das neue Parlament war säkularistisch dominiert. Doch nur 18 Prozent der Wähler hatten sich an den Wahlen beteiligt.

In Tripolis, wo die islamistische Tendenz politisch und in den Milizen stark war, weigerten sich das bisherige Parlament und die bisherige Regierung zurückzutreten. Sie stützten sich dabei auf eine Allianz von Milizen, in welcher jene der tripolitanischen Handelsstadt Misrata eine führende Rolle spielten. Das neugewählte Parlament kam durch die Bewaffneten unter Druck und sah sich schliesslich gezwungen, nach Tobruk weit im Osten Libyens auszuweichen. Das Tobruk-Parlament bestimmte später Haftar zum Kommandanten seiner Armee, die den Namen einer Libyschen Nationalen Armee (LNA) erhielt.

In Tripolis regierte weiter die vorausgegangene Regierung mit dem alten Parlament, abgestützt auf die ihr zuneigende Milizallianz, die sich „Libysche Morgenröte“ nannte. Die Milizen der „Morgenröte“ führten einen scharfen Krieg gegen die Milizen von Zintan, welche während der Erhebung gegen Ghaddafi den Flughafen von Tripolis besetzt hatten. Sie gehörten zu den säkularen Milizen und waren aus den Berbergebieten von Zintan nach Tripolis gekommen. Sie wurden schliesslich im August 2014 aus dem Flughafen vertrieben und kehrten in ihre Heimat in den Nafusabergen im Landesinneren nah der tunesisch-libyschen Grenze zurück. Dort hielten sie sich in den folgenden Jahren als Verbündete des weit entfernten Haftar und seiner Anhänger. Der Flughafen von Tripolis wurde durch die Kämpfe zerstört.

Auf diesem Weg erhielt Liben zwei rivalisierende Regierungen, die international anerkannte von Tobruk mit ihrem dortigen Parlament und ihrer „Nationalen Libyschen Armee“ unter Haftar auf der einen – und die Regierung von Tripolis, gestützt auf die Milizen aus Misrata und auf pro-islamistische Kämpfer. Diese Regierung beherrschte die Hauptstadt, war aber nicht international anerkannt.

Lösungsversuch durch dritte Regierung

Als es sich als unmöglich erwies, die beiden Regierungen miteinander zu versöhnen und zu verschmelzen, versuchte die Uno-Vermittlung, eine dritte Regierung ins Leben zu rufen, der alle Seiten zustimmen könnten. Nach langen Verhandlungen in Marokko und Tunesien landete schliesslich Ende März 2016 diese dritte Regierung mit Uno-Hilfe in Tripolis. Sie wurde von Fayez al-Sarradsch geleitet. Anfänglich fand sie in Tripolis einige Zustimmung, in erster Linie durch die Milizen von Misrata, und sie konnte mit deren Hilfe einen verlustreichen, aber schliesslich, Ende 2016, erfolgreichen Krieg gegen die Kräfte des „Islamischen Staates“ führen. Diese hatten sich der Stadt Sirte, in der Mitte zwischen Tripolitanien und der Cyrenaika gelegen, bemächtigt.

General Haftar jedoch und die von ihm dominierte sowie auch international anerkannte Staatsstruktur von Tobruk weigerten sich, al-Sarradsch und seine Regierung anzuerkennen. Die von der Uno vorgesehene Machtübertragung an die dritte Regierung kam nicht zustande. Aus diesem Grund erlangte die dritte Regierung unter al-Sarradsch trotz ihrer Stützung durch die Uno-Mission nie die volle Legitimität. Im Verlauf des Jahres 2016 verlor sie Anhänger und sogar einige ihrer Minister, weil sie das Land nicht zu regieren vermochte.

Tiefe Krise

Libyen war in eine tiefe finanzielle und sicherheitspolitische Krise geraten. Die Banken hatten kein Geld mehr, die Elektrizität ging aus, die in Restbeständen noch funktionierende Erdölproduktion gelangte teilweise in die Hand von mafiösen Gruppen, die mit der italienischen Mafia zusammenarbeiteten. Teilweise kam das Erdöl unter die Herrschaft der Truppen Haftars, als diese sich im September 2016 der fünf Ladehäfen in der Syrte bemächtigten.

Haftar und seine „Nationale Libysche Armee“ kämpften seit 2014 in Bengasi gegen die dortigen islamistischen Milizen sowie gegen andere, teils rivalisierende Jihadisten in Derna, ebenfalls einer Hafenstadt der Cyrenaika. Sie meldeten periodisch Fortschritte, doch sie vermochten bis Februar 2017 nicht allen islamistischen Widerstand in der Cyrenaika zu brechen.

Machtlose Regierungen

Zusammenfassend lässt sich feststellen, Libyen habe seit dem Sturz Ghaddafis nie eine Regierung gehabt, die tatsächlich die Macht über das Land ausübte. Anfänglich gab es zwar ein Parlament und eine von ihm ernannte Regierung. Doch diese entbehrte stets eines der wichtigsten Attribute einer effektiven Regierung: das Gewaltmonopol auszuüben und die Waffenträger zu kontrollieren. Dieses blieb in der Hand der zahlreichen und sich mit den Jahren sogar noch weiter vermehrenden Milizen aus der Zeit des Bürgerkrieges. Die Folge war eine Aufsplitterung der wirklichen Macht und die dadurch bedingte Zerstörung des Staates.

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