Eine Bewertung des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen aus völkerrechtlicher Sicht
von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Benedek
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Benedek
Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen
Universität Graz
Eine Bewertung des israelischen Angriffs
auf den Gazastreifen aus völkerrechtlicher Sicht
1.Der israelische Angriff war nach dem Bericht des Israelkorrespondenten der Süddeutschen Zeitung vom 28.12.2008, Thorsten Schmitz, von langer Hand vorbereitet, obwohl die am 19.12. beendete Waffenruhe im Großen und Ganzen eingehalten worden war. Während der ca 6 Monate hielt Israel gegen alle Appelle der internationalen Gemeinschaft an der Blockade des Gazastreifens fest und unternahm mehrere Militäroperationen, während die Hamas ca 70 Raketen abschoss. Der Überraschungsangriff einen Tag vor Ablauf des Ultimatums widerspricht dem völkerrechtlichen Perfidiegebot.
2.Die 18 Monate andauernde Blockade des Gazastreifens verletzte gemäß dem Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Menschenrechte in den besetzten Gebieten, Richard Falk, grundlegende Menschenrechte der 1.5 Millionen Einwohner und verstieß gegen das völkerrechtliche Verbot der kollektiven Bestrafung. Die Abriegelung erinnert an die Belagerung Sarajewos.
3.Das unbestrittene Selbstverteidigungsrecht Israels gegen die Raketenangriffe der von USA und EU als terroristische Vereinigung eingestuften Hamas rechtfertigt nicht einen Vernichtungsfeldzug mit der Zerstörung von Elektrizitätsversorgung, Strassen und ziviler Gebäude wie des Parlaments, einer Hochschule, Schulen, Moscheen und Wohnhäuser mit mehr als 1.300 Toten, darunter mehr als 20 völkerrechtlich geschützte Ärzte und Sanitäter, sowie Fahrer von Hilfslieferungen, mehr als 500 Kindern und mehr als 5.000 Verletzten. Dabei wurden auch als Flüchtlingsquartiere gekennzeichnete Schulen der Vereinten Nationen als auch ein Warenlager des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina beschossen, wobei Kinder ums Leben kamen und viele Tonnen Lebensmittel und dringend benötigter Treibstoff verbrannten. Ein großer Teil der nun zerstörten Infrastruktur wurde mit europäischer Hilfe errichtet. Die Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur ohne militärische Notwendigkeit widerspricht der IV. Genfer Konvention. Ohne Zweifel war der Angriff Israels unverhältnismäßig und somit völkerrechtswidrig. Das ergibt sich schon aus dem Opferverhältnis von 1:100 und den Zerstörungen im Gazastreifen. Israel selbst spricht von „unverhältnismäßiger Abschreckung“. Sollten sich diesbezügliche Berichte bestätigen, verwendete Israel auch verbotene Waffen, was ebenfalls als Kriegsverbrechen zu bewerten wäre.
4.Die Erwartung, dass die 2006 mit absoluter Mehrheit gewählte Hamas durch die Angriffe und Invasion so stark geschwächt wird, dass sie die Unterstützung der Bevölkerung verliert ist unrealistisch, wie die israelischen Bombardements der Hisbollah im Libanon zeigten, die ihr rasches Wiedererstarken nicht verhindern konnten. Das enorme Ausmaß der Zerstörungen und Opfer wird jedoch eine Solidarisierung mit Hamas und einen massiven Hass nicht nur der Palästinenser, sondern auch der islamischen Welt auf Israel und den Westen erzeugen. Dies kann zu einer neuen Welle des Terrorismus führen, der auch uns treffen kann. Jedenfalls werden Friedensverhandlungen (die von Seiten der Arabischen Liga wie des „Quartetts“ der USA, EU, Russlands und den Vereinten Nationen nach der Amtsübernahme Obamas geplant waren) dadurch erschwert.
5.Unklar ist wer, wenn nicht die Hamas als stärkste politische Kraft die zukünftige Administration des Wiederaufbaus übernehmen soll. Den Großteil der Wiederaufbaukosten vielleicht auch die Kosten einer allfälligen Friedenstruppe wird wieder die EU und damit wir alle zu tragen haben. Somit zahlen wir alle für den Krieg Israels und sind mitbetroffen. Trotz der am 8.1.2009 endlich verabschiedeten verbindlichen Sicherheitsratsresolution 1860, wonach Israel und die Hamas, den Krieg sofort zu beenden und Verhandlungen aufzunehmen hätten, hat Israel dies erst 10 Tage danach, am 18.1.2009 um 2 Uhr morgens getan, nachdem auch der Menschenrechtsrat und die Generalversammlung der Vereinten Nationen ähnlich Resolutionen verabschiedet hatten. Die Hamas hat erst im Laufe des 18.1. eine 1-wöchige Waffenruhe erklärt, nicht ohne vorher noch einige Raketen auf Israel abzufeuern, gerade noch rechtzeitig vor dem Doha-Gipfel zum Gaza-Konflikt und vor der Inauguration des neuen amerikanischen Präsidenten. Auch daran wird deutlich, dass der Krieg nicht aus militärischer Notwendigkeit, sondern aus politischem Kalkül vor dem Amtsantritt der neuen amerikanischen Administration und im Hinblick auf die Wahlen in Israel, aber auch in Palästina geführt wurde.
Das Verhalten beider Seiten verdient daher Kritik, auch wenn Israel die Hauptschuld für die Opfer und Zerstörungen trägt.
Der Krieg ging vorläufig mit einer einseitigen Waffenstillstandserklärung der beiden Seite zu Ende, es besteht somit nicht einmal ein gemeinsames Waffenstillstandsübereinkommen. Entsprechend schwierig werden die weiteren Verhandlungen sein. Die Palästinenser sind weiterhin gespalten und auch in der israelischen Regierung und Bevölkerung bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen. Dasselbe gilt für die arabische Welt.
Der erste Schritt müsste eine gegenseitige Anerkennung der Konfliktparteien sein, also des Existenzrechts Israels durch die Hamas und der Hamas als politischer Organisation durch Israel. Als zweiter Schritt ist eine Öffnung der Grenzen zu fordern, damit die völkerrechtswidrige „Belagerung“ des Gaza-Streifens, für den Israel als Okkupationsmacht immer noch völkerrechtliche Verantwortung trägt, beendet wird und humanitäre Hilfe sowie Wiederaufbauhilfe geleistet werden kann. Nach den Wahlen in Israel und in Palästina müssen sich die jeweils gewählten Verantwortlichen mit Vermittlung des Quartetts (USA, EU, Russland, UN) an einen Tisch setzen und einen Friedensvertrag aushandeln. All dies ist leichter gesagt als getan, jedoch gibt es letztlich keine Alternative, es sei denn, der Krieg wird auf unbestimmte Zeit verlängert.
Wolfgang Benedek
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