Mahatma Gandhi: Gandhi muss weg!
Er ist eine Ikone, weltweit bewundert für seine Idee des gewaltlosen Widerstands und seine religiöse Toleranz. Doch in Mahatma Gandhis Heimat Indien wollen viele Menschen davon nichts mehr hören. Sie feiern lieber jemand anderen: Gandhis Mörder.
Gandhi muss weg! – Seite 1
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 44/2023.
Am 2. Oktober 2023, morgens um sieben, als es noch nicht ganz so heiß ist, setzt sich in der Stadt Jalgaon im Westen Indiens ein Gedenkmarsch in Bewegung. Heute ist ein staatlicher Feiertag, denn vor 154 Jahren wurde der sogenannte Vater der Nation geboren: Mahatma Gandhi. Kinder in Schuluniform halten Plakate mit Gandhi-Zitaten hoch: „Gewaltlosigkeit ist der Zustand vollständiger Unschuld“ oder „Widme dich dem Dienst für andere. Dann wirst du dein Selbst finden“. Erwachsene haben ein weißes Mützchen auf dem Kopf, so wie es ihr Vorbild manchmal trug. Jemand hat sich sogar komplett als Gandhi verkleidet, mit runder Brille und einem schlichten Baumwollgewand.
Ein wenig hinter der Spitze läuft ein Mann in Sandalen durch die staubigen Straßen, die Locken ergraut, auf den Schläfen ein Schweißfilm. Tushar Gandhi scheint nichts dagegen zu haben, dass der Zug eher gemächlich vorankommt. „Meine Strategie lautet immer: Zeit lassen. Sonst bekommen die Leute gar nicht mit, dass wir da sind.“
Tushar Gandhi ist ein Urenkel von Mahatma Gandhi. Persönlich kennengelernt hat er ihn nicht; als er 1960 geboren wurde, war der Urgroßvater schon seit zwölf Jahren tot. Dennoch sieht sich Tushar Gandhi dazu berufen, das Erbe des Mannes zu hüten, den er nur Bapu nennt, Vater. Oder besser: sein Erbe zu retten. Auf die Straße gehen für Mahatma Gandhi, Tushar macht das gewissermaßen hauptamtlich. Einmal lief er 387 Kilometer am Stück – exakt die Strecke des berühmten „Salzmarsches“, mit dem Mahatma Gandhi einst dagegen protestierte, dass die britischen Kolonialherren das Monopol auf den Handel mit Salz für sich beanspruchten. Der Salzmarsch war eines jener Ereignisse, mit denen Mahatma Gandhi die Massen mobilisierte und die schließlich zur Unabhängigkeit des Landes im August 1947 führten. Nun, fürchtet Tushar Gandhi, droht die Erinnerung daran zurückgedrängt zu werden. Wie an vieles andere auch.
An diesem Tag ist der Weg nicht ganz so lang, einmal die Mahatma Gandhi Road hoch, vorbei an einem überwucherten Kricketfeld zum Mahatma Gandhi Garden, einem öffentlichen Park. Anderthalb Kilometer, wenn es hoch kommt. Gleich wird Tushar Gandhi auf einer Bühne stehen und in einer Rede daran erinnern, wofür sich sein Urgroßvater einsetzte. Nun, kurz vor dem Eingang zum Park, sagt er, während er dahinschreitet: „Der Tag, an dem wir aufhören, für Bapu einzustehen, wird der Tag sein, an dem er endgültig erledigt ist.“
Einige Hundert Kilometer entfernt, in einem grünen Viertel der Metropole Pune. Für den Immobilienentwickler Ajinkya Godse, mit 55 ein knappes Jahrzehnt jünger als Tushar Gandhi, ist dieser 2. Oktober alles andere als ein Feiertag. Von seinen Angestellten hat er verlangt, dass sie zur Arbeit kommen. Während überall im Land Mahatma Gandhis gedacht wird, führt Ajinkya Godse am Sitz seiner Firma in ein Zimmer, das mit den Vitrinen, den Schwarz-Weiß-Fotos und den gerahmten Dokumenten an den Wänden ein wenig wie ein Privatmuseum wirkt. Auf einer Halbkugel aus Glas liegt eine frische rote Hibiskusblüte, darunter steht eine silberne Urne. In ihr, sagt Ajinkya Godse, befinde sich die Asche seines Großonkels Nathuram Godse.
Ajinkya Godse hat seinen Großonkel nie kennengelernt, so wenig wie Tushar Gandhi seinen Urgroßvater. Auch Ajinkya Godse möchte das Erbe seines Verwandten hüten. Die Tat, für die er den Großonkel bewundert, geschah am 30. Januar 1948: Da wurde Mahatma Gandhi von Nathuram Godse ermordet.
„Er tat es nicht für sein Ego, er hegte keinerlei persönliche Feindschaft gegen Gandhi“, sagt Ajinkya Godse und wägt sorgsam seine Worte. „Er tat es für die Nation.“
Es ist eine Interpretation der Geschichte, die verrückt klingen mag. Mahatma Gandhi, der Mann, der die britischen Kolonialherren in die Knie zwang, die weltweite Ikone, das Symbol für friedlichen Widerstand, Selbstlosigkeit, religiöses Miteinander – er soll ein Vaterlandsverräter sein? Und sein Mörder der wahre Nationalheld?
Es ist aber auch eine Interpretation der Geschichte, der immer mehr Inder anhängen. Der Raum mit der Urne ist zu einer Pilgerstätte geworden. Da liegt das Hemd, das Nathuram Godse am 30. Januar 1948 trug, man erkennt darauf Flecken. „Schauen Sie, das Blut“, sagt sein Nachfahr – Gandhis Blut. Da sind die Bücher, die der Mörder las, als er nach der Tat im Gefängnis saß. Da ist die Bhagavad Gita, eine der heiligen Schriften der Hindus, die er bei sich getragen haben soll, als er, zum Tode verurteilt, an den Galgen trat. Ajinkya Godse und seine Frau haben das Gedenkzimmer vor zwölf Jahren eingerichtet. „Das Einzige, was uns fehlt, ist die Waffe, die er benutzte“, sagt die Ehefrau.
Hinweisschilder draußen an der Straße haben die Godses nicht angebracht. „Diejenigen, die der Asche meines Großonkels nahe sein wollen, finden auch so den Weg“, sagt Ajinkya Godse. Er hat ein Gästebuch für die Besucher ausgelegt. Jemand hat geschrieben: „Ich bin extra aus Hyderabad angereist. Welche Ehre, die Überreste des wahren Patrioten Nathuram Godse zu sehen.“ Die meisten anderen Kommentare sagen mehr oder weniger das Gleiche. Viele Menschen haben ihre Visitenkarte in das Buch gelegt, darunter auch Staatsbedienstete.
Auf X, dem früheren Twitter, trendet an diesem Feiertag, der an Gandhis Geburt erinnern soll, der Hashtag #NathuramGodseAmarRahe – Lang lebe Nathuram Godse. Hunderttausendfach verbreiten sich Videos, die den Mörder glorifizieren und sein Opfer verächtlich machen. Besonders, so scheint es, unter jenen, die neben Nathuram Godse noch einen anderen Mann verehren wie einen Guru – Narendra Modi, Indiens Premierminister.
Die Methode seines Widerstandes
Im Gedenkzimmer sagt Ajinkya Godse: „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mir gesagt hat, dass mein Großonkel mit dem Mord an Gandhi einen Fehler beging.“ Die Antwort auf die Frage nach dem Warum, glauben er und seine Frau, lieferte Nathuram Godse selbst. Damals während seines Gerichtsprozesses verlas er eine Art Manifest. Fünf Stunden lang erklärte Godse, dass er der Retter der Hindus sei – und dass er Gandhi töten musste, weil alles andere zur Vernichtung seines Volkes geführt hätte. Das handschriftliche Manuskript liegt hier im Zimmer in einer der Vitrinen aus. Für den Großneffen und seine Frau scheint es so etwas wie ein Evangelium zu sein, sie kennen viele Passagen auswendig. Im Einklang rezitieren sie auf Englisch: „Eines Tages werden ehrliche Geschichtsschreiber meine Tat abwägen und ihren wahren Wert erkennen.“
Dieser Tag, glauben sie, rückt nun endlich näher.
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Als Mohandas Karamchand Gandhi, den bald alle nur noch Mahatma nennen werden, Große Seele, am 9. Januar 1915 im Hafen von Bombay, dem heutigen Mumbai, die Gangway des britischen Postschiffs SS Arabia hinunterläuft, betritt er seine Heimat als Fremder. Er ist 45 Jahre alt und hat die meiste Zeit seines bisherigen Erwachsenenlebens in Südafrika verbracht, einer anderen britischen Kolonie. Sein Ruf als kompromissloser Widerständler gegen die Kolonialherrschaft ist ihm über den Ozean hinweg vorausgeeilt. Eine Menschenmenge erwartet ihn am Kai, er wird mit Blüten und Girlanden überhäuft. So viel Hoffnung. Seine Anhänger setzen darauf, dass dieser Mann die Inder hinter sich versammelt, dass er den Briten politische und wirtschaftliche Reformen abtrotzt.
Gandhi hatte als junger Mann in London Jura studiert, er hatte gern schicke britische Anzüge getragen. Doch als er nun wie besessen durchs Land reist, um sich ein Bild der Lage zu machen, verwandelt er sich nach und nach in die asketische Figur im Lendenschurz, als die ihn die Nachwelt später kennen wird. In den Vorkämpfer der indischen Unabhängigkeit.
Die Methode seines Widerstandes hat er schon in Südafrika entwickelt: Satyagraha. Der Begriff meint in etwa das unbedingte Beharren auf der eigenen Wahrheit und den Willen, diese ohne den Einsatz von Gewalt durchzusetzen. Auch wenn man verprügelt, verhaftet, sogar getötet wird – Gandhi zufolge wird satya, die Wahrheit, mit jeder Attacke durch den Gegner bloß an Stärke gewinnen. Gleichzeitig wird die eigene moralische Überlegenheit dazu führen, dass der Gegner geschwächt wird. Sorgt, sagen wir, eine hohe Steuer auf Salz dafür, dass sich nur noch wenige Inder Salz leisten können, während die Briten von ihr profitieren, und werden Zehntausende ins Gefängnis geworfen, weil sie friedlich dagegen protestieren – dann erkennen am Ende Millionen diese Ungerechtigkeit und gehen auf die Straße. Dann entflammt ein Volk. So wird es 1930 tatsächlich geschehen.
Gandhi ruft die Inder zu Streiks auf. Er spricht vor riesigen Menschenmengen, er wird als spiritueller Führer verehrt. Fährt er mit der Eisenbahn, dann immer in der niedrigsten Wagenklasse, wo es dreckig ist und überfüllt.
Es ist eine chaotische Zeit, in der sich die globale Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg neu sortiert, um kurz darauf wieder blutig zu implodieren. Große politische Ideen ringen miteinander: Kommunismus oder Faschismus? Geht aller Wille vom Volke aus – oder drückt man ihm besser seinen Willen auf? Sind alle Menschen von Geburt an gleich – oder gibt es menschliche Rassen, von denen einige dazu berufen sind, über die anderen zu herrschen?
Überall im britischen Empire brechen Konflikte aus, drängen Unterdrückte auf einen eigenen Nationalstaat – wobei oft unklar bleibt, wer dazugehören soll und wer nicht. In Indien planen zwei Männer die Revolution. Der eine ist Mahatma Gandhi, der dürre Verfechter der Gerechtigkeit. Er glaubt an Ruhe und Beharrlichkeit, und er betont die Einheit der indischen Muslime, knapp ein Drittel aller Einwohner, und der indischen Hindus. Der andere ist ein feuriger Radikaler: Vinayak Damodar Savarkar. Er setzt auf einen militanten Aufstand gegen die Kolonialherrschaft, angeführt von den Brahmanen – die soziale Elite unter den Hindus, die oberste Kaste, für Savarkar die natürlichen Herrscher eines künftigen Indien.
Wie Gandhi hat Savarkar in London Jura studiert. Wie Gandhi ist er charismatisch. Wie Gandhi ein Hindu. Und wie Gandhi sitzt er in den 1920ern in einem britischen Gefängnis – Gandhi für eine Aktion, bei der er Hindus und Muslime im Boykott vereinte, Savarkar für von ihm ersonnene Mordanschläge auf britische Kolonialbeamte. Doch während Gandhi, verurteilt zu sechs Jahren, schon nach einem Drittel der Haftzeit wieder frei ist, muss Savarkar fürchten, im Gefängnis zu sterben. In seiner Neun-Quadratmeter-Zelle auf den Andamanen, einem abgelegenen tropischen Archipel, trägt er stets ein Brett um den Hals, auf dem die Dauer seiner Strafe steht: 50 Jahre, zweimal lebenslänglich. Durch die Gitterstäbe kann er den Raum des Henkers sehen, dort baumeln drei Stricke von einem Balken. Savarkar schreibt Gnadengesuch um Gnadengesuch, er schwört den britischen Kolonialherren seine Treue. Ohne Erfolg.
Dann verfasst er ein Buch.
Mit Hindutva, so der Titel, erfindet sich Savarkar neu. Sein Hass richtet sich nun nicht mehr gegen die Briten, sondern gegen die indischen Muslime. Anders als die Hindus hätten sie kein Anrecht darauf, Indien als ihre heilige Heimat zu betrachten. Als Savarkar dies schreibt, ist es zwar schon tausend Jahre her, dass muslimische Eroberer den Islam ins heutige Indien brachten. Aber die Hindus, so Savarkar, seien eben die ursprüngliche Zivilisation. Es ist ein Blut-und-Boden-Denken. Der antiimperialistische Freiheitskämpfer hat sich in einen völkischen Ideologen verwandelt.
Ob es einen Zusammenhang gibt oder nicht, lässt sich nicht rekonstruieren – jedenfalls darf Savarkar 36 Jahre vor dem offiziellen Ende seiner Haftstrafe in einen Hausarrest wechseln, der schließlich aufgehoben wird. Und sein Sinneswandel scheint echt zu sein. Auch in den 1930ern und 1940ern kooperiert er weiter mit den Briten. Gegen seine Erzfeinde agitiert er: die Muslime und deren Unterstützer, allen voran Mahatma Gandhi.
Ja, Gandhi wird von vielen verehrt. Aber Savarkar auch. Vor allem von jungen Männern, wie Nathuram Godse einer ist.
„Godse war ein Mensch ohne Richtung, aber er strebte immer danach, seine Männlichkeit unter Beweis stellen zu können“, sagt der Journalist und Sachbuchautor Dhirendra Jha, der Kette rauchend in seiner kleinen Erdgeschosswohnung am Stadtrand von Delhi sitzt. Um ihn herum stapeln sich Bücher, über das Kastenwesen der Hindus und ihre Brahmanen, über Gurus und Schlägertruppen. Und auch Gandhi’s Assassin, „Gandhis Mörder“, für das Jha jahrelang in Archiven recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen hat. Es ist sowohl eine Biografie Nathuram Godses wie auch ein Psychogramm der nationalistischen Rechten in Indien.
Die RSS
Die Sehnsucht danach, den starken Mann zu geben – Dhirendra Jha führt sie unter anderem auf Erfahrungen zurück, die der spätere Mörder als Kind machte. Bevor Nathuram Godse zur Welt kam, hatte seine Mutter drei Söhne geboren. Alle drei waren bald gestorben. Bei Nummer vier beschlossen die Eltern, fromme Brahmanen, das Schicksal auszutricksen. Sie zogen ihrem Sohn Mädchenkleider an und ließen ihm ein Loch in die Nase stechen, für einen Ring. Die Götter sollten denken, er sei kein Junge.
„Dass er als mordender Hindu-Suprematist enden würde, war nicht klar. Er schwankte zunächst zwischen Gandhi und Savarkar“, sagt sein Biograf Jha. „Er war verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihn führt.“ Am Anfang Gandhi und dessen Unabhängigkeitsbewegung. Massenproteste, Massenboykotts, Massenverhaftungen. Es heißt, auf den Kundgebungen habe Nathuram Godse sogar ein weißes Gandhi-Mützchen getragen.
Doch dann, 1929, zog die Familie um, in ein Küstenstädtchen in der Nähe von Bombay. Es dauerte nur drei Tage, bis Nathuram Godse den rassistischen Ideologen Vinayak Damodar Savarkar besuchte, der zufällig in derselben Straße wohnte. Ein junger Mensch ohne Richtung findet einen, der führen will.
„Jene Zeit“, sagt der Biograf Jha, „war der Ursprung all dessen, was wir heute sehen.“
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Indien im Jahr 2023 – eine gefestigte säkulare Demokratie, könnte man denken, stolz auf ihre Vielfalt und stark darin, sie auszuhalten. Sprachen und Kulturen, architektonische Wahrzeichen und Rituale mischen sich. Hier der Tadsch Mahal, errichtet von einem muslimischen Großmogul. Dort die Tempel für Hindugötter wie Shiva, Kali oder Ganesha. Hier die nach einem muslimischen Sultan benannte Stadt Ahmedabad, dort das nach einem hinduistischen Maharadscha benannte Jaipur. Hier der größte Filmstar, ein Muslim, dort der größte Kricketstar, ein Hindu.
Doch nicht nur die Demonstranten um Tushar Gandhi, den Urenkel, sehen all das in Gefahr. Denn auf einmal finden Fanatiker Gehör, die die Bevölkerung in echte und falsche Inder einteilen, je nachdem, wie man heißt und zu wem man betet. Städte werden umbenannt. Politiker bezeichnen Muslime pauschal als Terroristen. Interreligiöse Ehen gelten als Verrat an den eigenen Leuten. Intellektuelle argumentieren für das Konzept einer Hindu-Nation. Ihre Bücher, in denen sie Savarkars Denken erneuern, landen auf den Bestsellerlisten.
In seiner Wohnung in Delhi arbeitet der Autor Direndra Jha gerade an seinem nächsten Werk. Es geht darin um die größte rechtsradikale Vereinigung der Welt, die Nationale Freiwilligen-Organisation, kurz RSS. Sie wurde Mitte der 1920er von einem Arzt gegründet, der stark unter Savarkars Einfluss stand. Ein offizielles Verzeichnis ihrer Mitglieder führt sie nicht; es dürften viele Millionen sein, und es werden immer mehr. Eigentlich sprechen die Mitglieder nicht mit Journalisten oder anderen Außenstehenden, denen sie misstrauen, doch Jha konnte viele von ihnen interviewen.
Die RSS ist ein paramilitärischer Verband, irgendwo zwischen Pfadfindergruppe und Ku-Klux-Klan. Auf Zehntausenden Plätzen in ganz Indien marschieren schon Jungs im Grundschulalter, sie tragen braune Hosen und weiße Hemden und schwenken Fahnen. Dhirendra Jha: „Im wöchentlichen Ideologieunterricht wird den Freiwilligen beigebracht, dass sie als Hindus seit Jahrhunderten verfolgt und unterjocht werden“ – von den Muslimen und deren angeblichen Verbündeten, den toleranten Hindus in der Tradition Gandhis. Die, so heißt es in den Kursen, hätten den Muslimen das Schlachten von Rindern – heiligen Tieren im Hinduismus – erlaubt und auch sonst zu viele Rechte gegeben. Eine indische Beamtin, die lange im Inlandsgeheimdienst tätig war, sagt später im Hintergrundgespräch mit der ZEIT, dass in den Bibliotheken der RSS in der Regel auch Adolf Hitlers Mein Kampf stehe.
Bald nach der Gründung der RSS trat ihr der spätere Gandhi-Mörder Nathuram Godse bei.
1939 schrieb der damalige Vorsitzende der RSS über die Judenverfolgung in Deutschland: „Rassenstolz in seiner höchsten Form manifestiert sich hier.“
Dann, Ende der 1950er, im Alter von acht Jahren, wurde jemand anderes Mitglied. Offenbar gefiel es diesem Jungen in der RSS, denn im Laufe seiner Jugend arbeitete er sich hoch, bis er eine Art Kapo war. Als solcher soll man zölibatär leben und sein ganzes Dasein der Sache opfern. Der junge Mann, der schon mit 13 von seinen Eltern verlobt worden war und mit 18 geheiratet hatte, verließ seine Frau – die RSS war ihm wichtiger. Sein Name: Narendra Modi.
Rund um die RSS ist in all den Jahren ein ganzes Netzwerk hindunationalistischer Organisationen entstanden. Studentenvereinigungen. Initiativen zum Schutz von Kühen. Schlägertrupps. Privatschulen. Vorbereitungsklassen für Jugendliche, die den Aufnahmetest der Armee bestehen wollen. Und dann ist da noch der politische Arm: die Indische Volkspartei, kurz BJP. In sie wechselte Modi in den 1980ern, mit Mitte 30, nahtlos über.
Narendra Modis Aufstieg zur Macht
Heute regiert Narendra Modi Indien als Premierminister, und die BJP ist die erfolgreichste Partei des Landes. Im Parlament der Republik Indien ist sie mit 395 Abgeordneten vertreten, kein einziger von ihnen ist muslimisch. Der Innenminister, der Verteidigungsminister, der Bildungsminister und andere wichtige Politiker in Modis Regierungskabinett, sie alle entstammen der RSS oder einer ihrer Untergruppen. Jeder, der die Organisation durchlaufe, werde auf die gleiche Weise indoktriniert, sagt der Autor Dhirendra Jha. „Egal, ob er Godse oder Modi heißt.“
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Narendra Modis Aufstieg zur Macht hat im Bundesstaat Gujarat an der Westküste Indiens begonnen. Hier ist er ab 2001 knapp anderthalb Jahrzehnte lang Ministerpräsident. Seine Regierungszeit beginnt mit einem blutigen Ereignis: Am 27. Februar 2002 verbrennen nach Auseinandersetzungen mit Muslimen 59 Menschen in einem Zug, fast alle von ihnen Hindupilger. Daraufhin kommt es im gesamten Bundesstaat zu Gewaltexzessen. In einem mehrere Tage dauernden Pogrom werden schätzungsweise 2000 Muslime von hinduistischen Mobs getötet. Mordend, brandschatzend und vergewaltigend ziehen die RSS-Anhänger durch die Straßen.
Der Ministerpräsident hält sich im Hintergrund. Er ruft zwar die indische Armee zu Hilfe, belässt die Soldaten dann aber lange in ihren Baracken. Später werden sich Hinweise darauf finden, dass die Regierung von Gujarat und staatliche Behörden die Gräueltaten unterstützt haben. Unabhängigen Untersuchungen zufolge haben die Täter teilweise unter der Führung von Personen agiert, die mit Wählerverzeichnissen und anderen offiziellen Dokumenten ausgestattet waren. Das half dabei, muslimische Wohnhäuser und Geschäfte ausfindig zu machen.
In den Monaten nach dem Pogrom steht der Ministerpräsident in der Kritik. In Indien, sogar in seiner eigenen Partei, aber auch international. Deutschland, Großbritannien und die USA verhängen ein Einreiseverbot gegen ihn. Modi bietet zunächst seinen Rücktritt an. Dann geht er in die Offensive. Er zieht in seinem Bundesstaat die Wahlen vor. Im Wahlkampf setzt er ganz auf antimuslimische Ressentiments und inszeniert sich selbst als Beschützer der hinduistischen Mehrheit. Er werde Medien, die über das Versagen der Behörden berichtet haben, nicht länger den Ruf Gujarats beschmutzen lassen, verspricht er.
Modi gewinnt die Wahl. Mit dem Sieg zementiert er seine Macht und weist seiner Partei den Weg in die Zukunft. Er hat es bewiesen: Mit einem populistischen Hindunationalismus und Hetze gegen Minderheiten im Sinne des Ideologen und Gandhi-Gegenspielers Savarkar kann man im 21. Jahrhundert in Indien wieder viele Menschen begeistern.
Bedauern für die Opfer des Pogroms äußert Modi nie, bis heute nicht. Juristische Ermittlungen gegen ihn werden eingestellt. Wer eine Aufarbeitung fordert, wird beschimpft oder verfolgt. Whistleblower, die über Modis Verbindung zum Pogrom berichten, landen im Gefängnis. Einer kommt unter seltsamen Umständen ums Leben.
Ein Tag im Oktober 2023 in Ahmedabad, der größten Stadt von Gujarat. Neben einem träge vor sich hin fließenden Fluss, nicht weit vom Narendra Modi Stadium, dem mit 132.000 Plätzen größten Kricketstadion der Welt, liegt der berühmte Sabarmati-Aschram. Auf dem weitläufigen Gelände dämpfen Tamarindenbäume die Hitze und den Lärm der Straße. Zwischen flachen Gebäuden eine Bronzestatue: Mahatma Gandhi. Die Stadt, in der der Aufstieg des radikalen Hindus Modi zur Macht begann, war in den 1920ern Gandhis Heimat. Hier im Aschram lebte er damals mit seiner Frau, hier organisierte er den zivilen Widerstand seiner Landsleute gegen die Kolonialherren, von hier aus brach er auf zu seinem Salzmarsch.
Ein Aschram ist für Hindus in etwa das, was ein Kloster für Christen ist. Für Gandhi hatte das Leben an einem solchen Ort nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine politische Bedeutung – der Aschram als Ort des sozialen Miteinanders, ohne Luxus, ohne Hierarchien, ohne Unterschiede zwischen den Religionen. Cedric Prakash, ein 71-jähriger Jesuitenpater und Bürgerrechtler, kommt regelmäßig hierher. Als er jetzt über das Gelände schlendert, über der Schulter einen Beutel aus grobem Tuch, ein Erkennungszeichen der Gandhianer, erzählt Prakash von der Gewalt, die vor zwei Jahrzehnten seine Stadt erschütterte.
Er sagt: „Modi hat absolut nichts dafür getan, die Mobs zu stoppen. Im Gegenteil, er hat sie zum Morden ermuntert. Es handelte sich um einen Frontalangriff auf alles, wofür Gandhi steht.“ Er sei in jenen Tagen durch die Stadt gelaufen, sagt Prakash, habe Opfer identifiziert und Angehörige getröstet. In seinen Augen stehen Tränen. Auch er selbst habe Freunde verloren. Seit damals habe die religiöse Polarisierung in der Stadt massiv zugenommen. Und in der Zivilgesellschaft hätten viele Angst. „Wir sind vorsichtiger und schweigsamer. Dieses Regime ist sehr nachtragend und rachsüchtig.“ Auch er selbst sei bereits mehrfach verprügelt worden.
Wo steht Indien? Wie demokratisch ist die „größte Demokratie der Erde“, als die Narendra Modi sein Land feiert – genau wie Olaf Scholz und all die anderen westlichen Politiker, die auf der Suche nach einem Verbündeten sind? Der Premierminister, so hört man es in Indien immer wieder von Gesprächspartnern, schaffe ein Klima der Straffreiheit. Indem er Gerichte und andere staatliche Institutionen mit Gefolgsleuten besetzt. Indem sein Machtapparat kritische Journalisten verhaften lässt und dafür sorgt, dass Trolle und Influencer die sozialen Netzwerke mit Propaganda fluten. Indem er Dinge nicht sagt, Taten nicht verurteilt, die Radikalen machen lässt.
Abseits der Kameras verschwinden nach und nach Gandhis Spuren
Juni 2023: Im Bundesstaat Maharashtra binden RSS-nahe Fanatiker einen muslimischen Mann an einen Baum und erschlagen ihn mit Eisenstangen, Rohren und Schuhen, weil er angeblich Rindfleisch transportiert hatte. Seit Modi 2014 Premierminister wurde, ist die Zahl tödlicher Übergriffe im Namen der Kuh stark gestiegen. Laut einer Umfrage würde jeder dritte Hindu in Indien keinen der etwa 200 Millionen Muslime als Nachbarn akzeptieren.
Juli 2023: In einem Schnellzug auf dem Weg nach Mumbai erschießt ein Wachmann mehrere Muslime. Ein Video zeigt ihn, wie er neben einem seiner Opfer steht und sagt: „Ich sage es euch, wenn ihr in Hindustan leben und wählen wollt, dann nur mit Modi.“
August 2023: Im Bundesstaat Uttar Pradesh fordert eine Lehrerin ihre Grundschulklasse auf, der Reihe nach einen Mitschüler zu ohrfeigen. Er hatte das Einmaleins nicht richtig gekonnt. „Diese muslimischen Schüler müssen geschlagen werden, bevor sie nach Hause dürfen“, hört man die Lehrerin in einem Video sagen.
Oktober 2023: In Ahmedabad schlagen Aktivisten aus dem Umfeld der RSS einen Lehrer zusammen, der seine Schüler mit den Festen verschiedener Religionen vertraut gemacht hat.
Im Aschram am Fluss gibt es nicht nur die Gandhi-Statue, sondern auch ein kleines Museum. Kahle Wände, karge Einrichtung, persönliche Habseligkeiten: der Gehstock, mit dem Gandhi lief, das Geschirr, von dem er aß, die berühmte Brille. Draußen auf einer Veranda sitzt eine Frau an einem Spinnrad – Gandhi liebte das einfache Handwerk des Spinnens, er rief die Inder dazu auf, ihre Kleidung selbst herzustellen. An diesem Tag spazieren Touristengruppen und Schulklassen an dem Ort herum, an dem er einst lebte. Manchmal kommen jedoch auch andere Besucher, eingeladen vom Premierminister persönlich: Xi Jinping, Benjamin Netanjahu, Donald Trump, sie alle haben schon in Gandhis Aschram gesessen und Garn gezwirbelt. Das gibt schöne Fotos.
Es ist nicht so, dass Narendra Modi öffentlich schlecht über Gandhi reden würde. Er erweist ihm regelmäßig Respekt, streut Blüten für ihn aus, verbeugt sich an Gedenkstätten. Modis Unterstützer werfen seinen Kritikern deshalb Panikmache vor: Was wollt ihr denn, er ehrt ihn doch. Leute wie der Jesuitenpater Cedric Prakash und der Urenkel Tushar Gandhi hingegen sehen reine Heuchelei. Modi würde Gandhi am liebsten loswerden, sagen sie, sagen auch die wichtigsten Gandhi-Historiker des Landes – doch weil der eine weltweite Ikone sei, gehe das nicht. Also sonne sich Modi eben für die internationalen Medien in seinem Licht.
Abseits der Kameras verschwinden nach und nach Gandhis Spuren. Im vergangenen Jahr beschloss die Regierung, Gandhis Lieblingshymne Abide with Me aus den Feierlichkeiten zum Tag der Republik zu streichen – es war die letzte Verbindung zum „Vater der Nation“ während der Zeremonie. Einige Monate später tilgte ein nationales Bildungsgremium aus Lehrbüchern für weiterführende Schulen Verweise auf den Fanatismus der Hindunationalisten, der zum Mord an Gandhi führte.
Eine Abgeordnete der Regierungspartei nannte nicht nur den Mörder Nathuram Godse im indischen Parlament einen „Patrioten“, sie ist auch angeklagt, Teil einer Terrorzelle gewesen zu sein, die tödliche Anschläge auf Muslime verübte. Sie darf weiter in der Fraktion sein.
Zu Gandhis Geburtstag Anfang Oktober organisiert die Regierung seit Modis Amtsantritt jedes Jahr groß angelegte Reinigungsaktionen, die Inder sind dann dazu aufgerufen, Straßen und Plätze zu säubern. Als Logo der Kampagne dient ein Foto von Narendra Modi neben Gandhis Brille. Auf diese Vorbildrolle scheint Mahatma Gandhi jetzt reduziert zu sein: der Mann, der immer so reinlich war.
Und in der Nähe von Ahmedabad hat Modi vor einigen Jahren ein Hightech-Gandhi-Museum eingeweiht, sozusagen das Gegenstück zum historischen Aschram. Es liegt in einem Gewerbegebiet, zwischen einem Kongresszentrum und einem Hotel. Die Ausstellung reiht ohne Kontext Episoden aus Gandhis Leben aneinander, mit lauter Musik und animierten Kurzfilmen. Darüber, was am 30. Januar 1948 geschah, erfährt man nur, „ein Mann“ habe Gandhi getötet. Mehr nicht.
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Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Indien steht vor der Unabhängigkeit. Mahatma Gandhi hat sein Ziel erreicht. Und doch muss er in den letzten Jahren seines Lebens fürchten, dass die Menschen seine Botschaft nicht verstanden haben.
Der Hass zwischen Hindus und Muslimen explodiert. Es kommt zu Massakern, organisiert von Politikern und Scharfmachern beider Seiten, die um ihren Einfluss in einem künftigen Nationalstaat kämpfen. Gandhi, weit über 70 Jahre alt, bricht noch einmal auf, läuft zu Fuß durch die betroffenen Regionen, hält Reden, versucht zu beschwichtigen. Immer öfter stehen ihm nun radikale Hindus skeptisch bis feindlich gegenüber.
Eine gemeinsame Heimat von Hindus und Muslime
Die britischen Kolonialherren beschließen, den Subkontinent zu teilen und gleich zwei Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen: Indien und Pakistan. Im August 1947 ist es so weit. Gandhi hält sich von den Feiern fern. Für ihn ist der Sieg auch eine Niederlage: Er wollte immer, dass sich Hindus und Muslime in einem gemeinsamen Land heimisch fühlen. Nun kommt es anders. Hindus ziehen aus Pakistan nach Indien und Muslime aus Indien nach Pakistan. Chaos, Flüchtlingstrecks, neue Massaker. Aus Landsleuten sind endgültig Feinde geworden, aus Nachbarn Fremde.
Im Herbst 1947 ist die Lage in Delhi besonders schlimm. Die Stadt ist voller hinduistischer Flüchtlinge aus Pakistan. Sie rächen sich nun an den Muslimen, die in ihrer Heimatstadt geblieben sind, weil sie an Gandhis Idee einer säkularen Demokratie glauben wollten. Mahatma Gandhi, zu Hilfe gerufen von der Regierung, hält Gebetsversammlungen ab, tröstet Betroffene und fastet öffentlich, eine Art Hungerstreik gegen das Töten.
Die RSS erhält in dieser Zeit starken Zulauf. Nathuram Godse schreibt eine hindunationalistische Zeitung voll, agitiert gegen Gandhi – und schmiedet im Januar 1948 mit einer Handvoll Mitstreitern einen Plan. Sie besuchen zunächst ihren Mentor Savarkar. Eine Untersuchungskommission wird später zu dem Schluss kommen, Savarkar habe ihnen das Signal gegeben, den Plan in die Tat umzusetzen. Die Gruppe steigt in den Zug und fährt nach Delhi. Dort warten an einem kalten Nachmittag Hunderte Menschen darauf, dass Mahatma Gandhi eine Andacht zelebriert. Nathuram Godse drängelt sich durch die Menge, bis er vor dem alten Mann steht, von dem er glaubt, ohne ihn könne Savarkars Vision eines Landes nur für Hindus endlich wahr werden. Godse begrüßt ihn. Dann feuert er drei Kugeln in Gandhis Oberkörper.
Als Nathuram Godse knapp zwei Jahre später an den Galgen tritt, rezitiert er die ersten Verse des RSS Prayer, einer Art Hymne der Hindunationalisten.
Für immer verneige ich mich vor dir, oh geliebtes Mutterland! Oh Mutterland der Hindus, du hast mich in Freude großgezogen. Möge mein Leben, oh großes und gesegnetes Heiliges Land, in deinem Dienst gelebt sein. Ich verneige mich vor dir, wieder und wieder.
Diese Hymne wird auch heute noch bei den täglichen Aufmärschen der RSS gesungen.
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Tushar Gandhi, der Urenkel, sagt: „Wir Gandhianer konnten uns lange nicht vorstellen, jemals an den Rand gedrängt zu werden. Und als wir aufgewacht sind, war es zu spät.“ Ohne gewaltlosen Widerstand will er das Erbe Mahatma Gandhis allerdings nicht hergeben. Also schreibt er Beiträge in sozialen Netzwerken, wo es oft heißt, Gandhi habe die Teilung Indiens durch die Briten unterstützt und Hindus gehasst. Er veröffentlicht Kommentare in Zeitungen, sitzt in Fernsehstudios und auf Bühnen und geht demonstrieren, so wie am Feiertag zu Gandhis Geburtstag in der Stadt Jalgaon.
Am Abend dieses Tages ist Tushar Gandhi zu Gast bei einer Art Sommerschule für Studierende, dem National Gandhian Leadership Camp, organisiert von einer Unternehmerfamilie, die Mahatma Gandhi verehrt. Ein Hörsaal, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben gerade einen kanadischen Dokumentarfilm über Gandhis Ermordung angeschaut. Nun geht das Licht wieder an, schnellen Hände in die Höhe. Tushar Gandhi nimmt den Ersten dran.
Wieso, fragt ein junger Mann, sei Gandhi denn verbrannt worden wie ein Hindu und nicht bestattet?
Tushar Gandhi zögert, er scheint unsicher zu sein, ob er die Frage richtig verstanden hat. Dann fragt er zurück: „Wieso hätte er denn bestattet werden sollen?“
„Na ja“, antwortet der junge Mann, „Gandhi war doch Muslim.“
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Ajinkya Godse, der Großneffe, sagt: „Es gab so viele Gräueltaten gegen Hindus, als Gandhi lebte. Es war nicht nötig, das Land zu teilen. Warum konnte Gandhi das alles nicht stoppen? Was hat der gewaltlose Widerstand erreicht? Absolut nichts!“
Er steht im Gedenkzimmer zu Ehren des Mörders und freut sich darüber, dass die Regierung das Land so umgestaltet, wie sein Großonkel es sich gewünscht hätte. „Er tut viel für Hindus“, sagt Ajinkya Godse über den Premierminister. Zum Beispiel sei es früher unvorstellbar gewesen, Savarkar öffentlich zu ehren. Heute sind Straßen, Schulen und Brücken nach dem geistigen Vater des modernen Hindunationalismus benannt. Einmal besuchte Modi sogar die Gefängniszelle auf den Andamanen, in der Savarkar einsaß. Fotos zeigen den Premierminister auf dem Boden kniend, mit gefalteten Händen und geneigtem Haupt vor einem Bild jenes Mannes, der Gandhis Mörder so sehr beeinflusst hatte.
Tushar Gandhi und Ajinkya Godse. Die beiden Männer, Nachfahren zweier Berühmtheiten, haben sich nie getroffen und hätten sich wohl auch nicht viel zu sagen. Spricht man Tushar Gandhi auf die Godses an, antwortet er: „Die sind mir egal. Das Einzige, was die haben, ist die Aufmerksamkeit, die sie bekommen.“ Und Ajinkya Godse verliert sich in dem Gespräch in Pune immer wieder in Reminiszenzen an das Damals, an die Tat seines Großonkels und die Stellung, die ihm dafür in der Geschichte der Nation gebühre.
Die Asche, die vor ihm in der Urne liegt, möchte Ajinkya Godse an einem Ort verstreuen, der in den alten religiösen Texten des Hinduismus eine wichtige Rolle spielt und der dem Subkontinent seinen Namen gegeben hat: im Fluss Indus. Es gibt da nur ein Problem – der Indus fließt heute fast ausschließlich durch Pakistan. Aber Pakistan, da zeigt sich Ajinkya Godse überzeugt, werde irgendwann wieder zu Indien gehören. „Es wird zwei bis drei Generationen dauern. Aber es wird passieren.“
Jetzt blickt er erst einmal dem nächsten 30. Januar entgegen. An dem Tag, an dem sein Großonkel Gandhi erschoss, sagt er, kommen immer besonders viele Besucher ins Gedenkzimmer.
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