Brief an Altbürgermeister Stingl betr. Keren Hajessod

Lesen Sie unseren Brief vom 19.5.2012 :

Graz, am 19.5.2012

Sehr geehrter Herr Altbürgermeister Stingl!

Sie sind bekannt und wir kennen Sie für Ihre offene und menschliche Herangehensweise in der Politik, die Sie bis heute in die Gesellschaft hineintragen.

In Ihrer Amtszeit haben Sie dafür gesorgt, dass die 1938 zerstörte jüdische Synagoge wieder aufgebaut und eröffnet werden konnte; zweifelsohne ein schon lange fällig gewesener Schritt, angesichts der an den Juden und JüdInnen in Graz und Steiermark begangenen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus.

Dies und der interreligiöse Dialog in dessen Kontext sie zukunftsweisend ihre Aktivitäten stellten, waren für viele friedensliebende GrazerInnen Aufmunterung und Anerkennung.

Wir als steirische Friedensplattform befürworten fraglos alle Aktivitäten, die dem Judentum als Religion und den Jüdinnen und Juden alle Möglichkeiten geben, ihre Rechte zu leben und ihre Kultur wiederaufzubauen und weiterzuentwickeln.

Wir sehen allerdings den Schritt problematisch an, mit dem aus dieser Förderung die unhinterfragte Unterstützung einer jüdisch-nationalistischen Machtstaatspolitik Israels wird, die ihre dramatischen Auswirkungen besonders in den Besetzten Gebieten zeigt.

Diesen Schritt haben Sie getan, als sie am 29.4.2012 dem Aufruf des israelischen Vereins Keren Hajessod zur Magbit Benefizgala für Israel im Grazer Congress gefolgt sind.

Keren Hajessod ist eng mit der Jewish Agency verbunden, zuständig für die Finanzierung von Landerwerb und Besiedlung in Palästina. Die Jewish Agency strebte „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ an. Palästina war nie ein leeres Land, aber die Existenz der arabischen Bevölkerung vor Ort wurde negiert und mündete in die NAKBA, die „große Katastrophe“ für die PalästinenserInnen: Nahezu 800 000 Menschen wurden zwischen 1947 und 1949 gezielt vertrieben, unter schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Der Schriftsteller Ghassan Kanafani  beschreibt das beispielhaft in seiner Geschichte „Ein Bericht aus Ramla“.1

350 000 PalästinenserInnen flüchteten durch den Krieg von 1967. 90 000 wurden zwischen 1967 und 1993 gewaltsam durch die israelische Armee deportiert.  Der Abriss von Häusern, die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch den Sperrwall und durch illegale Siedlungen, keine Verlängerung von „Aufenthaltsgenehmigungen“, rechtliche Schikanen ohne Ende, setzen die Vertreibung fort.

Heute repräsentieren die PalästinenserInnen mit zwei Drittel ihrer Gesamtbevölkerung, die im Exil lebt, die älteste und größte Flüchtlingsgruppe auf der ganzen Welt..2

Israelische Regierungen versuchen bis heute mit „Sicherheitsargumenten“3 eine Politik zu rechtfertigen, die an der Idee eines Groß-Israels vom Mittelmeer bis zum Jordan und an einem mehrheitlich jüdischen Staat festhält.

Die Landkarte, die Sie am 29.4. bei der Magbit Gala gesehen haben, beweist dies. Auf ihr erscheinen die seit 45 Jahren besetzten palästinensischen Gebiete als bereits annektiert.

Die Friedensbemühungen von Oslo fanden keinen positiven Abschluss, weil sich die israelischen Regierungen weigerten, den ausgehandelten Abkommen Folge zu leisten, in dem sie beispielsweise den Siedlungsbau fortsetzten, anstatt Land den palästinensischen Grundbesitzern zurückzugeben.

So ist das mehr als 60(!) Jahre andauernde Unrecht gegen die PalästinenserInnen traurige Gegenwart. In den letzten Tagen musste die derzeitige israelische Regierung dem Druck der palästinensischen Gefangenen und Menschenrechts -aktivistInnen nachgeben, die wegen der unmöglichen Zustände in den israelischen Gefängnissen in Hungerstreik getreten waren. Doch nach wie vor bleibt die beliebige Verlängerung der Verwaltungshaft aufrecht, die Menschen für Jahre ohne Urteil in Haft bringt. 4

Der aktuelle Bericht des DCI spricht von 7.000 geschätzten palästinensischen Kindern, die seit 2000 verhaftet und strafrechtlich von israelischen Militärgerichten verfolgt wurden.5

Der Frieden in der Region ist möglich, aber nicht durch Repression und eine immer weitere – auch atomare – Aufrüstung, durch fortschreitenden Siedlungs- und Mauerbau und die Stabilisierung eines politischen Systems, das nicht einer Demokratie, sondern vielmehr der Apartheid ähnelt, wie der südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu Israels Politik im Jahr 2002 bezeichnet hat. 6

Wir ersuchen Sie um eine Stellungnahme zu diesem Schreiben. Gern würden wir aber mit Ihnen über die hier angesprochenen Fragen auch ein persönliches Gespräch führen. Ihre Bereitschaft vorausgesetzt, ersuchen wir dazu um einen Terminvorschlag.

Auch verschweigen wir unsere Hoffnung nicht, dass Sie die nächste Einladung von Keren Hajessod begründet zurückweisen.

Spendengelder, die Sie, Herr Altbürgermeister, israelischen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen zukommen lassen können, dienen wirklich dem Frieden.

Mit freundlichen Grüßen

und in Erwartung Ihrer geschätzten Antwort

Steirische Friedensplattform

Veronika Rochhart

u.a.

www.friedensplattform.at

Frauen in Schwarz (Wien)

http://www.fraueninschwarz.at/

Kritische jüdische Stimme (Österreich)

http://www.nahostfriede.at/

Anmerkungen:

1 im Net unter http://wienzeile.cc/text/66/

Buch: Ghassan Kanafani: Das Land der traurigen Orangen, Lenos-Verlag, Basel.

2 Israelische Historiker selbst, wie Ilan Pappe* und Benny Morris** haben diese Tatsachen bestätigt.

* Benny Morris: The birth of the Palestinian refugee Problem 1947-1949. Cambridge  1987

** Ilan Pappe: The Making of the Arab-Israeli Conflict, 1947-1951, London 1992

3 Simcha Flapan*** hat den Mythos, dass Israel „als David dem Goliath gegenübersteht“, als solchen entlarvt, indem er beispielsweise für 1948 nachwies, dass die israelische Armee Israel wesentlich besser ausgebildet und erfahrener war, als alle arabischen Streitkräfte zusammen, ganz zu Schweigen von der waffentechnischen Überlegenheit zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Das Land hat auch 2012 die pro Kopf weltweit  mit Abstand höchsten Militärausgaben

*** Simcha Flapan: Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit. München 1988

4 Dokumentiert von den Menschenrechtsorganisationen www.betselem.org und www.addameer.org, dem Roten Kreuz,  Human Rights Watch und Amnesty International.

5 http://www.dci-palestine.org/documents/new-dci-report-bound-blindfolded-and-convicted-children-held-military-detention-2012

6 Apartheid in the Holy Land, The Guardian. 29. April 2002.

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