Eskalationspoker

US-Waffenlieferungen an Kiew
Von Reinhard Lauterbach

Sollte US-Präsident Barack Obama tatsächlich beschließen, die Ukraine mit Waffen zu beliefern, wäre dies eine entscheidende Drehung an der Eskalationsschraube im Krieg um den Donbass. Damit würde sich ein bitteres ukrainisches Sprichwort bestätigen, nach dem »Russen und Amerikaner sich bis zum letzten Ukrainer bekämpfen«. Der Krieg würde auch explizit das werden, was er in Wirklichkeit von Anfang an war: ein Konflikt um geopolitische Positionen, darum, ob Moskaus weltpolitischer Hauptgegner in der Lage ist, sich direkt an der russischen Südwestflanke politisch und militärisch einzunisten.

Nachgeschobene Erläuterungen aus Washington sollten niemanden in Sicherheit wiegen. Wenn ein US-Sicherheitsberater jetzt erklärt, »in naher Zukunft« seien keine Waffenlieferungen an Kiew geplant, dann dementiert er etwas, was niemand behauptet hat. Denn was heißt »in naher Zukunft«? Nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr? Militärexperten gehen davon aus, dass es schon aus technischen Gründen sechs bis zwölf Monate dauern würde, bis US-Waffenlieferungen an die Ukraine tatsächlich einsatzbereit wären.

Einiges spricht dafür, dass es Washington einstweilen darum geht, im eigenen Lager die Öffentlichkeit auf den Gedanken einer neuen Eskalationsstufe in Osteuropa einzustimmen. Es ist natürlich kein Zufall, dass das interne Memorandum der Befürworter von Waffenlieferungen an die New York Times gelangt ist. Zwei Tage vor dem entsprechenden Bericht in dem US-Blatt hatte der Washington-Korrespondent der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza in einem Leitartikel genau solche Lieferungen gefordert. Polens staatstragende Presse kann es prompt kaum erwarten, dass nun »endlich« »etwas getan wird« gegen das »eurasische Imperium« – und freut sich auf Aufträge für die polnische Rüstungsindustrie.

Dass die USA bereit sind, durch Waffenlieferungen einen Stellvertreterkrieg fernab des eigenen Territoriums anzufachen, zeigt die Skrupellosigkeit zumindest eines Teils der amerikanischen Elite. In die Quere könnte den Eskalationsstrategen allenfalls noch ein Faktor kommen, auf den in den letzten Tagen der US-Analysedienst Stratfor aufmerksam gemacht hat: Solange Russland militärisch noch überlegen ist, könnte es sich versucht sehen, der Aufrüstung seines Gegners mit einer wirklichen Offensive zuvorzukommen. Die würde dann mindestens bis zum Fluss Dnjepr reichen und die Ukraine ihres industriellen Potentials berauben. Ginge es darum, die »friedliche Wahl des ukrainischen Volkes« zu unterstützen, wäre das für die USA ein gewichtiges Argument, auf Waffenlieferungen zu verzichten. Denn von der Ukraine bliebe in diesem Fall ein nationalistisch zähnefletschender Rumpfstaat ohne wirtschaftliche Grundlage übrig, ein Dauerkandidat für die Alimentierung durch Washington und Brüssel. Will Obama aber die Konfrontation mit Russland, dann fallen die Kosten für den Unterhalt der Ukraine kaum noch ins Gewicht.
Junge Welt, Ausgabe vom 04.02.2015

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