Renovierter Neoliberalismus

Vier Jahre Obama-Krisenmanagement. Teil II (und Schluß): Das Scheitern der Kapitalismusreform von oben und die Innen-Außen-Dialektik der USA in der Krise

Von Ingar Solty
Nicht mehr Aufkäufer von Überschußwaren anderer

Nicht mehr Aufkäufer von Überschußwaren anderer Länder: Mit niedrigen Löhnen und schleichender Dollarentwertung will Präsident Barack Obama die USA zu einem Nettoexportland umbauen (Washington, 11.3.2010)
Foto: dapd

Die Mangelhaftigkeit des Konjunkturprogramms zog noch andere Entwicklungen nach sich. Sie setzte zunächst die Notenbank unter Druck. Diese verlegte sich angesichts der miesen Konjunkturaussichten im Rahmen des »Quantitative Easing« – im Grunde ein Euphemismus für das Anschmeißen der Notenpresse – auf die massive Ausweitung der Geldmenge und forcierte die Politik dauerhaft niedriger Leitzinsen zur Ankurbelung der Konjunktur. Dabei erhöhte Notenbankchef Ben Ber­nanke im Dezember 2008 das Discount-Window, vergleichbar mit der Spitzenrefinanzierungsfazilität der EZB, auf den höchsten Wert von 75 Basispunkten, wodurch die Geschäftsbanken in den nächsten Jahren sogar noch unter dem Zinssatz von 0,5 Prozent, d.h. praktisch umsonst, Geld beziehen konnten.

Das »Quantitative Easing« läuft zwar auf eine schleichende Entwertung des Dollars und damit der vom (asiatischen) Ausland gehaltenen Reserven hinaus, ist aus der Sicht der US-Eliten aber nicht nur weitgehend alternativlos, sondern angesichts der im Frühjahr 2010 einsetzenden Krise des Euro als potentieller Weltwährung und der Unsicherheit des europäischen Anlagemarktes momentan auch relativ risikolos.

Die – für den Fortbestand des »Dollar-Wall-Street-Regimes« und damit des American Empire brisanten – Tendenzen zu regionalen Währungsräumen, gemischten Währungsreserven und regionalen Währungswechseln haben sich in den letzten Jahren verstärkt. Doch besteht für den Augenblick keine Alternative zum Dollar, und das Vertrauen der internationalen Anleger in die Zahlungsfähigkeit der USA ist nach wie vor hoch. Zwar wertete die US-Kreditratingagentur Standard & Poor’s am 6.8.2011 die Bonität von der Bestnote AAA auf AA ab; dies war aber wohl eher als Warnung des Finanzkapitals an den Staat gemeint, sozusagen als Geleitfeuer in Richtung Austerität. Denn Obama hatte gerade in einem Kompromiß mit den Republikanern, der Sparmaßnahmen von zwei Billionen Dollar in den nächsten Jahren vorsieht, die Schuldenobergrenze des Staates erhöht.

Zwar ist die Staatsverschuldung unter Obama in Folge der Kosten für Krieg im Mittleren Osten, Konjunkturprogramm, Rettung der Banken und Automobilindustrie sowie Verlängerung der immens kostspieligen Bush-Steuersenkungen für die Reichen von 10,2 auf 15 Billionen Dollar noch einmal deutlich angestiegen. Angesichts der Flut an anlagesuchendem Kapital können sich die USA aber trotzdem so niedrig verzinst wie nie auf den internationalen Kapitalmärkten mit Geld versorgen. Damit läßt sich jedoch auch – wie die Keynesianer um den Kolumnisten der New York Times Paul Krugman nicht müde werden zu betonen – der Anstieg der Verschuldung verkraften und theoretisch mit einer Defizitfinanzierung aktive Konjunkturpolitik betreiben. Der Dollar scheint nicht in Gefahr zu sein; mangels Alternativen schlucken die ostasiatischen Zentralbanken dessen schleichende Entwertung.

Binnenökonomisch konnte die schon 2007 eingesetzte und 2009 ihren Zenit erreichende Kreditklemme der Industrieunternehmen durch die Maßnahmen der Notenbank jedoch kaum behoben werden. Im Kontext der riskanten Wirtschaftslage leiteten die Geschäftsbanken die Nulltarifkredite der Federal Reserve nicht zu ähnlichen Konditionen an die Unternehmen weiter, sondern brachten damit eher ihre Bilanzen auf Vordermann oder trieben feindliche Übernahmen und Fusionen voran, um lästige Konkurrenz zu beseitigen. Erst 2010 schwächte sich die Liquiditätskrise der Unternehmen ab, die aber angesichts voller Lager, volatiler Märkte, der zum selben Zeitpunkt einsetzenden »Euro-Krise« und sinkender Wachstumsimpulse aus den Schwellenländern nur unzureichend investierend tätig wurden. Im Gegenteil, es kam zu einer Anhäufung immenser Geldreserven in Nicht-Finanzunternehmen, die sich nach Schätzungen der International Labor Organization Ende Juni 2011 auf zwei Billionen Dollar (13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) beliefen.

Bankenrettung, Finanzmarktreform

Ein zentraler Fragenkomplex des Krisenmanagements war, was aus den seit dem Paulson-Plan unter dem Präsidenten George W. Bush vom 3.10.2008 am Staatstropf hängenden Banken werden sollte, welche Lehren aus der Krise zu ziehen und wie die Finanzmärkte zu reformieren seien.

Da eine dauerhafte Verstaatlichung der »systemrelevanten« Banken und ihre Überführung in öffentliche Dienstleistungsunternehmen für Obama nicht infrage kamen und ohne revolutionäre Massenaufstände wohl auch nicht durchzusetzen wären, blieb der Regierung wenig mehr übrig als der erhobene Zeigefinger bei den neuen Rekordboni und die Drohung, diese durch Sondersteuern abzuschöpfen.

Ein alternativer, bei kleinbürgerlichen Marktradikalen und linksliberalen Intellektuellen beliebter Ansatz war die Bankenzerschlagung. Diesem liegt die Idee zugrunde, daß es entflochtenen, aber weiterhin privatkapitalistisch organisierten Banken an jener Systemrelevanz mangeln würde, die diese befähigt hat, den Staat in Geiselhaft zu nehmen. Gerade jetzt seien diese zusätzlich ermutigt, hochriskante und entsprechend profitable Risikogeschäfte zu tätigen, weil sie sich auf die Sozialisierung ihrer Verluste verlassen könnten. Doch die mit Wall-Street-Akteuren gespickte Regierung nahm auch hiervon Abstand.

Dies ist besonders ungeheuerlich angesichts des Konzentrationsprozesses im Bankensektor, ohne den es den »systemrelevanten« Banken niemals hätte gelingen können, ihre Schulden auf den Steuerzahler abzuwälzen und die in Folge dessen finanziell überlasteten Staaten dann zu einem privatisierungsprofitablen Abbau von sozialstaatlichen Leistungen zu zwingen. So ist der Anteil der größten Banken am Bruttoinlandsprodukt seit den 1990er Jahren dramatisch angestiegen und hat sich angesichts der krisentypischen Fusionen und Übernahmen weiter erhöht. Nach Berechnungen von Simon Johnson, Professor an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology, rangierte der BIP-Anteil der sechs mächtigsten US-Banken – Goldman-Sachs, Morgan Stanley, Wells Fargo, CityGroup, Bank of America und JP Morgan Chase – 1995 noch deutlich unter 20 Prozent und erhöhte sich bis 2007 auf knapp 60 und bis 2009 auf knapp 65 Prozent. Weder Bush noch Obama haben diesen Konzentrationsprozeß problematisiert, trotz oder gerade wegen der politischen Machtfülle, die sich aus dem ökonomischen Bedeutungszuwachs ergibt und die im Grunde das Ende der bürgerlichen Demokratie bedeutet.

Vor dem Hintergrund von Lobbyausgaben der US-Handelskammer in Rekordhöhe beließ es die im Juli 2010 verabschiedete Finanzmarktreform bei der Errichtung einer Verbraucherschutzbehörde für Kreditnehmer und der neuen Überwachungsbehörde FSOC. Deren Kompetenzen sind jedoch stark eingeschränkt. Auch auf die zunächst erwogene Erhöhung der Eigenkapitalvorschriften mit einem Leverage-Verhältnis von 15 zu 1 (ähnlich dem Basel-III-Abkommen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) wurde verzichtet.

Erst gar nicht in Erwägung gezogen wurde eine Finanztransaktionssteuer, die mit der Gesetzesinitiative »Let Wall Street Pay for the Restoration of Main Street« dem Kongreß schon seit 2009 vorliegt. Das Political Economy Research Institute hat eine verwandte Gesetzesnovelle evaluiert und schätzt, daß bei einer Besteuerung von Aktiengeschäften mit 0,25, Staatsanleihen und Termingeschäften mit 0,2, Kreditausfallversicherungen mit 0,015, Optionen mit 0,5 und Fremdwährungs-Kassageschäften mit 0,01 Prozent die Steuereinnahmen sich in einem Fenster von 123 bis 246 Milliarden Dollar bewegen dürften. Die Obergrenze entspräche knapp einem Zehntel der US-Steuereinnahmen im Jahr 2012 und wäre die drittlukrativste Steuer nach der Einkommens- sowie der Rentenversicherungs- und der Lohnsteuer. Selbst der niedrigste Schätzwert entspräche noch dem Gesamtbudget des Bundesbildungsministeriums und der Bundesumweltschutzbehörde zusammen.

Daß jedoch auch eine Finanztransaktionssteuer die Finanzkrise des Staates nicht in den Begriff bekommen würde, zeigt sich daran, daß die besagten 246 Milliarden lediglich einem 18,5-Prozent-Anteil der Neuverschuldung 2012 entsprächen und vom Gesamtdefizit des US-Staates sogar nur 1,55 Prozent. Aus diesem Grund ist dem früheren US-Arbeitsminister Robert Reich zuzustimmen, der vor dem Hintergrund der höchsten Einkommens- und Vermögensungleichheit seit Ende der 1920er Jahre in einem Artikel in der Huffington Post vom 4.4.2011 schrieb: »Der einzige Weg, auf dem die USA ihre langfristige Staatsverschuldung reduzieren, notwendige öffentliche Güter sowie die Renten- und die Rentnerkrankenversicherung erhalten und mehr in Bildung und Infrastruktur investieren können, ohne dabei die Steuern auf die lohnarbeitende Mittelklasse zu erhöhen, besteht darin, die Steuern für die Superreichen zu erhöhen.«

Die Krise der Automobilindustrie

Mehr noch als in der Konjunktur- und Finanzpolitik läßt sich jedoch anhand des Managements der Krise in der Automobilindustrie ablesen, daß Obamas Präsidentschaft nicht auf eine postneoliberalisierende Transformation, sondern die Wiederherstellung und Vertiefung des Neoliberalismus durch Staatshilfe hinausläuft. Die US-Automobilindustrie um die großen Drei – General Motors, Chrysler und Ford – mußte zwischen 2006 und 2009 hohe Verluste hinnehmen. Diese standen im Zusammenhang mit dem Shareholder Value und einer nicht nachhaltigen Profitmaximierung. Vor dem starken Anstieg des Ölpreises ab 2005 waren die Profitraten bei den »Gas-Guzzlers« (SUV, Pickup-Trucks) um ein Vielfaches höher als bei energieeffizienteren Modellen. Damit war es nun vorbei. Marktnahe Produzenten energiesparender Modelle wie Hyundai steigerten ihre Marktanteile.

Mit Einbruch der Krise waren Chrysler und GM auf staatliche Unterstützung angewiesen. Im Frühjahr 2009 meldeten sie dennoch kurz nacheinander Insolvenz an. Der Staat schritt mit einer praktischen Verstaatlichung ein. Zusammen mit Bushs Finanzspritzen erhielten die Unternehmen insgesamt 80 Milliarden Dollar. Die Tatsache, daß sie analog zu den Banken auf den Staat angewiesen waren, führte in der Linken zu einer lebendigen Konversionsdebatte im Rahmen des weiteren Diskurses über ein sozial-ökologisches Krisenmanagement (Social Green New Deal). Gefordert wurde der Umbau der Automobilindustrie in Richtung eines staatlichen oder staatlich anzuschiebenden Transportsektors des 21. Jahrhunderts jenseits der nicht nachhaltigen Autokultur. Das Vorbild hierfür bildete die Weltwirtschaftskrise, als unter Präsident Franklin D. Roosevelt binnen weniger Monate statt Zivilautos Kriegsvehikel produziert wurden.

Es zeigte sich jedoch bald, was Obama unter einer »re-tooled, reimagined auto industry that can compete and win« (umgerüstete, erneuerte Autoindustrie, die wettbewerbsfähig ist und erfolgreich sein kann) verstand: Er verfolgte einen »Hands-off«-Ansatz, der weder Einfluß auf die Zusammensetzung der Geschäftsführung noch die Investitionsentscheidungen nahm, und vertraute auf das unverbindliche Versprechen, in Zukunft in nachhaltigere Modelle zu investieren.

Tatsächlich ging die Presidential Task Force schon Mitte Juli 2009 vom »day to day involvement« (von permanenter Kontrolle) zum unregelmäßigen Monitoring über, obwohl Chrysler und GM immer noch am Staatstropf hängen; und man vermutet, daß ein Teil der Staatsgelder wohl abzuschreiben sind. Obamas Politik lief damit auch hier auf den Einsatz von Steuermitteln zur Wiederherstellung des Status quo privatkapitalistischer Profitmaximierung hinaus. In dieses Bild paßt auch Obamas fünf Milliarden Dollar schwere Abwrackprämie »Cash for Clunkers« gegen die Absatzkrise. Das Strukturproblem globaler Überkapazitäten, des globalen Preiskampfes und des »coerced investment« (der Zwangsinvestitionen) in dieser Branche verlagerte man so bloß in die Zukunft.

Sein Vorgehen verteidigt Obama als Erfolg. Tatsächlich hat GM 2011 wieder mehr Autos verkauft als Toyota. Die Automobilindustrie steht jedoch exemplarisch für die neue US-Wettbewerbsstrategie. Diese läuft auf eine »Beggar- Thy Neighbor«-Politik (Belaste-deinen-Nachbarn-Politik) hinaus, bei der die Staaten das Ziel verfolgen, »ihren« Unternehmen einen größeren Anteil am schrumpfenden Kuchen zu sichern und auf diesem Weg das Problem unausgelasteter Kapazitäten und der Überproduktion zu »lösen«. Den Preis für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit trotz wachsender ausländischer Konkurrenz zahlen neben der Umwelt die Lohnabhängigen. So wurden im Zuge der praktischen Verstaatlichung unter Beihilfe wettbewerbskorporatistischer Gewerkschaftsführungen die Löhne eines Großteils der Beschäftigten halbiert. Insofern die Abschlüsse in der fordistischen Kernbranche bis heute Leitbild für die Firmentarifverträge in anderen Branchen sind, steht dieses Vorgehen exemplarisch für die allgemeine strategische Stoßrichtung nach dem Scheitern des grünkapitalistischen Umbaus.

After Green Capitalism

Obamas Plan – vorgestellt in seinen Reden zur Lage der Nation 2011 und 2012 – ist eine »Reindustrialisierungsstrategie«, die sich gegen den im Mittleren Westen und in Teilen Neuenglands starken Protektionismus von links (Gewerkschaften, Globalisierungsgegner) und rechts (Rechtspopulisten wie Michael Savage) behauptet und bei aller nationalgefärbt-populistischen Rhetorik die Ausweitung des Freihandels als Ziel proklamiert. Mit einer milden Erhöhung der Steuern für die Reichen und Kürzungen im Staatshaushalt will Obama Infrastruktur- (Breitband fürs Hinterland, Ausbau des Straßennetzes) und Bildungsinvestitionen tätigen, um den Standort USA zu fördern. Dabei nährt er Illusionen, als könne mit solchen marktbasierten Strategien die Auslandsverlagerung rückgängig gemacht und das Leistungsbilanzdefizit abgebaut werden.

Die Senkung der Löhne, gekoppelt mit der schleichenden Dollarentwertung, sind dabei zwei wesentliche Pfeiler. Roosevelt reagierte damals auf aggregierten Nachfrageausfall und krisenbedingten Lohndruck im Rahmen des »Wagner«- (1935) und »Fair Labor Standards Act« (1938) mit einer institutionellen Aufwertung der Gewerkschaften, Arbeitszeitverkürzungen und einer Anhebung der Mindestlöhne. Daß Obama diesem Vorbild nicht gefolgt ist und die Gewerkschaften in seinen Reden und Programmen im Grunde nie Erwähnung finden, ist kein Zufall, sondern hat System. Die USA unter Obama sehen – trotz aller Beteuerungen, man könne und wolle nicht mit China konkurrieren – den Ausweg aus der Krise nicht in der Binnen-, sondern in der Exportwirtschaft. Damit signalisieren sie der Welt auch, daß die Tage, in denen die USA als keynesianischer Motor der Weltwirtschaft fungierten und Überschußkapital und -waren aus den anderen Weltmarktländern mit exportorientierten Wachstumsmodellen absorbierten, gezählt sind. Dies hat selbstverständlich Konsequenzen für die Krisentendenzen eines Kapitalismus, der auf permanentes Wachstum angewiesen ist, ein Wachstum, das gerade dadurch gefährdet ist, daß sich mehr und mehr Länder von Nettoimport- in Nettoexportländer verwandeln.

Vorteilhaft ist, daß die Krise auch im Lohngefüge deutliche Spuren hinterlassen hat. Denn im Hinblick beispielsweise auf das gewerkschaftliche Ziel einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik ergibt sich – je nach Standpunkt im Klassengegensatz – ein äußerst positives bzw. negatives Bild: Die Produktivität stieg 2009 um 2,9 und 2010 um 3,1 Prozent. Da die Lohnentwicklung nicht mit den Produktivitätssteigerungen Schritt hielt, sanken die Lohnstückkosten deutlich: 2009 um 1,5 und 2010 um ein Prozent. Erst 2011 stiegen sie wieder, weil die Produktivitätssteigerung mit 0,7 Prozent deutlich zurückging und die Produktivität im ersten Quartal 2012 sogar um 0,5 Prozent sank, um dann im zweiten Quartal 2012 wieder um 1,6 Punkte zu steigen. Die für die Lage der Lohnabhängigen entscheidenden realen Wochenlöhne sind im Juni 2012 um 0,6 Prozent gestiegen, weil auch die Wochenarbeitszeit um 0,3 Prozent stieg. Über den längeren Zeitraum von Oktober 2010 bis Juni 2012 sind sie jedoch um 1,1 Prozent gefallen. Kein Wunder, daß in Europa jetzt schon Stimmen vor der neuen US-Wettbewerbsfähigkeit warnen.

Kontinentalblockade gegen China

Sorge bereitet den USA die chinesische, grüne Subventionspolitik, von der man Wettbewerbsnachteile befürchtet. Obama verfolgt diesbezüglich einen doppelten Ansatz: Einerseits hat er den populären protektionistisch-nationalistischen Forderungen nach Strafzöllen (Stahl, Reifen) nachgegeben und die Errichtung einer »Freihandelsdurchsetzungsbehörde« angekündigt; andererseits üben die USA Druck auf China aus, den Kapitalverkehr vollständig zu liberalisieren und die von der Welthandelsorganisation als Voraussetzung des integrierten Weltmarkts verlangte Gleichbehandlung von inländischem und ausländischem Kapital auch jenseits der Sonderwirtschaftszonen zu erlauben. Hoffnungen zieht man aus den Machtkämpfen innerhalb der KP Chinas, die sich zugunsten des liberalen und gegen den nationalistischen Flügel zu entscheiden scheinen.

Ihren Forderungen verleihen die USA durch eine neue aggressive Außenpolitik Nachdruck. In China ist man sich unsicher, ob es sich dabei um rein innenpolitisches Säbelrasseln handelt oder um eine Politik der »Eindämmung« des eigenen Aufstiegs. Obamas Politik wird am besten als präventive Sicherheitsstrategie verstanden. Insofern die Freihandelsbemühungen der USA in Südamerika und Ostasien aufgrund innerer wie äußerer Widerstände stagnieren (die APEC ist im Grunde genommen tot, und an bilateralen Freihandelsabkommen hat Obama nur welche mit Panama, Kolumbien und Südkorea vorzuweisen), steigen die Befürchtungen, daß sich der Aufstieg Chinas im Zuge der bemerkenswert schnell voranschreitenden ökonomischen und politischen Integration in Südost- (ASEAN-plus-3) und Zentralasien (Shanghai Cooperation Organization, Asia Cooperation Dialogue) außerhalb des American Empire vollziehen könnte. Verstärkt werden die Sorgen, da China mit dem Chiang-Mai-Initiative-Multilateralisation-Agreement, einem chinesisch-dominierten, ostasiatischen System von Währungswechseln, das finanzpolitische Instrumentarium entwickelt, das einmal den Dollar als Leitwährung und damit das American Empire als solches in Frage stellen könnte.

Mit der Obama-Doktrin untermauern die USA ihren globalen Machtanspruch. Sie machen sich Spannungen unter den Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres zunutze, um bilaterale Militärabkommen mit Australien, den Philippinen, Japan, Vietnam und Thailand auszuhandeln und die Flotten- und Truppenpräsenz in der Region zu erhöhen. Zugleich bemühen sie sich, ihre Brückenköpfe im politisch instabilen und geopolitisch umkämpften kaukasischen Grenzgebiet zwischen China, Rußland und dem machtpolitisch durch die US-Niederlage in Irak und Afghanistan gestärkten Iran nicht zu verlieren und nach Möglichkeit auszubauen.

Die neue aggressive Geopolitik zielt darauf ab, dem nationalistischen Flügel innerhalb der KP Chinas jeden Gedanken an eine Herausforderung der US-Dominanz in den Bereichen Finanzen und Militär auszutreiben, indem sich die USA als größte Flottenmacht der Welt die Option auf eine antichinesische Kontinentalsperre verschaffen. Chinas Ressourcenzufuhr und Außenhandel ist fast vollständig von den Seewegen vom Persischen Golf über die Straße von Hormus und das Südchinesische Meer abhängig. Dabei verlassen sich die USA auch darauf, daß Chinas innenpolitische Stabilität angesichts der riesigen sozialen und regionalen Ungleichgewichte und proletarischen (Wanderarbeiter-)Massen von einer Fortsetzung des dynamischen Wachstums der letzten Jahre abhängt.

New Boss? Old Boss? Same Boss

Obama ist es nicht gelungen, die Krise zu einem Umbau des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise in Richtung eines »grünen Kapitalismus« zu nutzen. Seine pragmatische Politik läuft letzten Endes darauf hinaus, den neoliberalen Kapitalismus durch Staatshilfe wieder zum Funktionieren zu bringen. Dies ist zunächst typisch für den Staat im Kapitalismus, denn dessen Legitimität und steuerfinanzierte Funktionen sind vom reibungslosen Funktionieren der privatkapitalistischen Akkumulation abhängig. Deshalb arbeiten seine Apparate in der Regel auf die Behebung von Fehlern im System und nicht auf dessen Neuprogrammierung hin. Für eine Reform von oben sind – so eine zentrale Lehre der Regulationstheorie – paradoxerweise Gegenbewegungen von unten vonnöten, die Politikern wie Obama den Handlungsspielraum verschaffen, auch gegen die in den Staatsapparaten verdichteten Kräfteverhältnisse (charismatische) Politik zu betreiben, so wie es Roosevelt tat, dem die Institutionalisierung vorhandener Klassenkämpfe den Handlungsspielraum schuf, auch gegen den Großteil der Bourgeoisie eine Reformpolitik in ihrem langfristigen Interesse (Rettung des Kapitalismus) durchzuführen, von der zunächst auch die Lohnabhängigen profitierten.

Ob für Obama die Möglichkeit bestand, aus den Massen seiner Wahlkämpfer eine Bewegung zu formen, die eine Reformpolitik getragen hätte, wird die Historiker beschäftigen. Tatsache ist, daß er die tiefe Hegemonie- und Repräsentationskrise, die zum Aufstieg des Tea-Party-Rechtspopulismus und der linken Gewerkschafts- und Occupy-Bewegung geführt hat, nicht beheben konnte.

Die weitgehende Paralysierung des Staats und Reformunfähigkeit des Kapitalismus ist der Hintergrund für die wachsende Verzweiflung nicht nur unter kritischen Keynesianern wie Paul Krugman, sondern auch unter führenden organischen Intellektuellen der Bourgeoisie wie Thomas L. Friedman, Francis Fukuyama oder Jeffrey Sachs. Das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik ist in den USA wie überall als komplexe Innen-Außen-Dialektik zu begreifen. Die neue aggressive Außenpolitik ist eine Reflektion der ökonomischen, politischen und ideologischen Krise im Innern. Verändern sich die äußeren Parameter nicht (Krisenverschärfung, Druck von unten), ist von einem Obama-Sieg eine Fortsetzung der beschriebenen Politik zu erwarten. Die Unterschiede zwischen ihm und Romney sind dabei marginal.Ingar Solty ist Mitarbeiter am Fachbereich Politikwissenschaften der York University in Toronto, Redakteur von Das Argument und Gründungsmitglied des »North-Atlantic Left Dialogue«. Letzte Buchpublikationen: »Imperialismus« (zusammen mit Frank Deppe und David Salomon, 2011) und »Die USA unter Obama« (erscheint im Februar).

Teil I erschien in der Ausgabe vom 3./4. November

Quelle: 5.11.12

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