»Die Demokratie ist heute von innen heraus bedroht«

jW     14.01.2013

In Israel wird am 22. Januar ein neues Parlament gewählt – es droht ein weiterer Rechtsruck. Ein Gespräch mit Shulamit Aloni

Interview: Raoul Rigault

Shulamit Aloni (83) ist Schriftstellerin, Mitbegründerin der israelischen Friedensgruppe »Peace Now«, Trägerin des Israel-Preises und ehemalige Erziehungsministerin. Von 1965 bis 1996 war sie Knessetabgeordnete, erst der Arbeitspartei und dann der linkszionistischen RaZ bzw. Meretz

Am 22. Januar finden in Israel vorgezogene Neuwahlen statt. Die Umfragen sagen einen Rechtsruck der Wählerschaft voraus. Teilen Sie diese Einschätzung?

Was mich ängstigt und in bezug auf die Zukunft meines Landes und seine demokratische Verfassung pessimistisch stimmt, ist der Charakter dieser Rechten, ihre ultranationalistische Ideologie, ihre rassistischen Züge und eine verbale Gewalt, die häufig Wegbereiter für eine physische Gewalt gegen alle ist, die als »Feind« betrachtet werden. Es ist die Rechte, die meint, sie könne die Palästinenserfrage mit Waffengewalt lösen und in deren Vokabular Wörter wie Dialog, Zusammenleben oder Respekt gegenüber denen, die anders sind als man selbst, überhaupt nicht vorkommen. Eine Rechte, die den Extremismus der Siedler fördert und ihre Gegner für Verräter hält, die man neutralisieren muß. Benjamin Netanjahus Regierungskoalition hat nur einen Plan im Kopf, und den verfolgt sie bei jedem ihrer Schritte: die Schaffung Großisraels. Daraus werden sie ein atomares Ghetto machen, das mit dem Rest der Welt im permanenten Kriegszustand lebt.

Wichtigste Kraft der Opposition ist die Arbeitspartei, die im Wahlkampf alles auf die soziale Frage setzt und das Thema eines Friedensabkommens mit den Palästinensern bewußt ausklammert. Ist das eine gute Strategie?

Das ist eine Spaltung, die mich nicht überzeugt und die ich für falsch halte. Nicht weil ich die verheerenden sozialen Folgen der Politik von Netanjahu, Lieberman & Co. unterschätze. Um deren Ausmaß zu erkennen, braucht man sich bloß mal mit einem alten Menschen oder mit einer alleinerziehenden Mutter oder mit einem Jugendlichen unterhalten, der zu lebenslanger prekärer Beschäftigung verurteilt ist.

Dieser Ansatz überzeugt Sie dennoch nicht?

Schauen Sie! Ich bin seit langem davon überzeugt, daß Israel sein kostbarstes Gut, nämlich seine Demokratie, nur dann verteidigen kann, wenn es den Palästinensern ihr Recht zugesteht, als freie Frauen und Männer in einem territorial unversehrten Staat zu leben. Weil allen klar sein sollte, daß Demokratie mit der Unterdrückung der Palästinenser unvereinbar ist. In einem Staat, der ein anderes Volk einem Apartheidregime unterwirft, gibt es keine Demokratie.

So denken in Israel derzeit anscheinend nicht viele Leute. Fühlen Sie sich in diesem Kampf allein?

Zum Glück bin ich das nicht. Doch auch wenn ich es wäre, würde ich nicht aufhören, mich für diese Werte und für diese Prinzipien, die mein Leben kennzeichnen, einzusetzen. Sie haben mich dazu gebracht, für Israel zu kämpfen, sein Existenzrecht und seine Demokratie zu verteidigen. Eine Demokratie, die heute von innen heraus bedroht ist.

Sie haben Zeit Ihres Lebens auch für eine starke und radikale Linke gekämpft. Was empfehlen Sie der heute?

Wir brauchen eine Linke, die in der Lage ist, dieser regierenden Rechten, die unsere Demokratie in eine jüdische »Ethnokratie« verwandelt hat, eine echte Alternative in puncto Werte, ­Ideen und konkrete Politik entgegen zu setzen. Eine Linke, die diesen Namen wert ist, kann sich nicht der Illusion hingeben, es wäre möglich, die sozialen und Menschenrechte der eigenen Bürger zu schützen, die vom rechten Lager mit Füßen getreten werden, und gleichzeitig die Augen vor der Schändung der Rechte der Palästinenser verschließen. Man kann nicht in Tel Aviv Demokrat sein und in Ramallah Diktator. Grundlage der Gewalt, die das gesellschaftliche Leben in Israel kennzeichnet, ist die Gesetz gewordene Gewalt in den besetzten Gebieten. Deshalb wünsche ich mir, daß es bei dem Urnengang in zwei Wochen zu einem Widerstandsvotum kommt. Das wäre schon etwas.

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