Brüssels Diktate

jW 30.03.2013

Weltsozialforum in Tunis. Kritik an diskriminierender EU-Politik

Von Wolfgang Pomrehn, Tunis

Teilnehmer am Weltsozialforum am Donnerstag in Tunis

Teilnehmer am Weltsozialforum am Donnerstag in Tunis
Foto: Mohamed Messara/EPA/dpa-bildfunk

In Tunesiens Hauptstadt Tunis geht am heutigen Samstag das diesjährige Weltsozialforum zu Ende. Rund 50000 Teilnehmer hatten sich bis Donnerstag nachmittag angemeldet. Zum Wochenende wurde ein weiterer Ansturm erwartet. Etwa 80 Prozent der Teilnehmer seien Einheimische, berichtet Mouhieddine Cherbib vom Organisationskomitee.

Mit umgerechnet 50 Cent für Studenten, Rentner und Arbeitslose und 2,50 Euro für andere ist der Eintritt für die meisten erschwinglich, wenn auch nicht gerade billig. Der monatliche Durchschnittslohn beträgt in Tunesien 300 bis 350 Dinar (etwa 150 bis 175 Euro), der Mindestlohn liegt bei 246 Dinar (zirka 125 Euro). Tunesien hat die sogenannten Strukturanpassungsprogramme, die die Bundesregierung derzeit mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds Südeuropa aufzwingt, bereits hinter sich. Das Ergebnis ist eine hochgradig von Agrar- und Textilexporten in den Norden abhängige Wirtschaft, deren Handelsbilanzdefizit derzeit weiter wächst. Verhältnisse wie sie in vielfältiger Form auch auf dem Forum thematisiert wurden.

In einem gut besuchten, von ATTAC Deutschland organisierten Seminar diskutierten zum Beispiel Teilnehmer aus diversen nordafrikanischen und europäischen Ländern die Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen, die die EU derzeit mit den sogenannten Aghir-Staaten Marokko, Jordanien, Tunesien und Ägypten führt. Die Kritik, so Said Salim von ATTAC, fängt damit an, daß die EU zwar ein einheitliches und sehr weitgehendes Abkommen mit diesen Ländern will, aber mit jedem einzeln verhandelt. Das schwächt natürlich die ohnehin prekäre Position dieser Länder gegenüber dem mächtigen Brüsseler Block zusätzlich.

Ziel der EU ist die Beseitigung aller Handelshindernisse wie Zölle oder störende örtliche technische Standards. Darüber hinaus wird auf umfassende Rechte für europäische Unternehmen gedrängt. Schon jetzt genießen diese, so Salim, durch bilaterale Abkommen Privilegien wie die zeitweise Befreiung von Steuern und Sozialabgaben oder besonders günstigen Zugang zu Land. Die örtlichen kleinen oder mittleren Unternehmer können hingegen von derlei nur träumen. Die Folgen dieser Politik scheint in Brüssel und Berlin niemand zu interessieren. ATTAC kritisiert an den Verhandlungen unter anderem auch, daß die EU nicht zunächst die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der bereits bestehenden bilateralen Verträge untersucht. Immerhin, so Salim, wird es nach dem Seminar auf dem Forum nun eine internationale Gruppe aus Vertretern sozialer Bewegungen von beiderseits des Mittelmeeres geben, die die weiteren Verhandlungen gemeinsam beobachtet und analysiert. Einige Freihandelsabkommen, wie das für den amerikanischen Kontinent geplante FTAA, konnten in der Vergangenheit durch massiven öffentlichen Widerstand verhindert werden.

Eine weitere Kritik von ATTAC an dem geplanten neuen Vertrag, wird auf dem Weltsozialforum sicherlich von den allermeisten geteilt. Faktisch geht es der EU darum, die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer in einen einheitlichen Markt zu integrieren, ohne daß die Regierungen der Nicht-EU-Mitglieder dessen Regeln mitbestimmen und ohne daß sich die Bürger Nordafrikas und der Levante frei in ihm bewegen könnten. Freizügigkeit gibt es nur für europäisches Kapital und europäische Exportwaren. Die Behinderung der Migration und vor allem das aggressive und oft mörderische Grenzregime der EU an ihrer Südgrenze waren Gegenstand zahlreicher Debatten in Tunis. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte dazu vor überfüllten Zuhörerreihen ein Seminar, an dem auch mehrere Parlamentarier und Fraktionsmitarbeiter der Bundestags-Linken teilnahmen.

Von einem ganz besonderen Schicksal berichteten sudanesische und somalische Flüchtlinge aus dem Lager in Schuscha an der Grenze zu Libyen, die das Nachbarland aufgrund des Bürgerkrieges und der nachfolgenden Pogrome gegen Schwarzafrikaner verlassen mußten. Nach dem etliche 100 durch ein vom UN-Flüchtlingskommissariat, dem UNHCR, organisiertes Umsiedlungsprogramm in verschiedene Länder weiterreisen konnten, sind dort rund 230 Menschen gestrandet, für die sich keiner mehr zuständig fühlt. Betroffene berichten, ihnen sei die Umsiedlung verweigert worden. Im Juli wolle der UNHCR das Lager schließen, aber die Menschen wollen weder in Tunesien bleiben, noch können sie wegen der dort herrschenden Kriege in ihre Heimat im sudanesischen Dafur oder in Somalia zurück. In Tunesien aber, so berichteten sie in Tunis der Presse, leiden sie unter extremem Rassismus. Polizisten würden sie als »dreckige Sklaven« beschimpfen. Gleich nach der Errichtung des Lagers hatte es einem Überfall aus der einheimischen Bevölkerung gegeben, bei dem mehrere Menschen getötet und Zelte verbrannt worden seien.

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