Frankreichs verdrängte Probleme Emran Feroz 14.12.2015

 

Das Terrorismusproblem ist hausgemacht, aber die französische Regierung bombardiert lieber den IS in Syrien

In Frankreich herrscht weiterhin der Ausnahmezustand. Das Jahr 2015 begann für das „Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ mit den Massakern in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ sowie in einem jüdischen Supermarkt blutig – und endete noch blutiger mit den Pariser Anschlägen im November.

Die Anschläge haben deutlich gemacht, dass die französische Gesellschaft ein tiefgründiges Problem hat. Da alle Täter zumeist junge Franzosen waren oder zumindest in Westeuropa, zum Beispiel in Belgien, aufwuchsen und sozialisiert wurden, ist davon auszugehen, dass das Problem hausgemacht ist. Die französische Regierung will davon jedoch nichts wissen. Stattdessen meint sie, dass alles gelöst sei, indem sie den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien bombardiert.

Zum gleichen Zeitpunkt droht die Lage innerhalb der eigenen Landesgrenzen weiterhin zu eskalieren. Opfer dieser Eskalation, und das nicht erst seit November, ist vor allem die muslimische Minderheit Frankreichs, die für alle möglichen Missstände als Sündenbock herhalten muss. Dies wurde etwa schon wenige Tage nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ deutlich. Als damals bekannt wurde, dass die Täter muslimische Wurzeln hatten, entlud sich eine Welle des Hasses – sowohl in den Sozialen Medien als auch auf den Straßen Frankreichs.

Laut dem Collectif contre l’Islamophobie en France (Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich, kurz: CCIF) ereigneten sich in den ersten Wochen nach den Anschlägen mindestens 116 islamfeindliche Angriffe in ganz Frankreich – mehr als im gesamten Jahr 2014. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden insgesamt 222 Angriffe gezählt, was einen Anstieg von 500 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr bedeutet.

Bild: CCIF

Die Liste der Angriffe ist lang: Von Übergriffen auf Kopftuch tragende Frauen, die laut CCIF und anderen Aktivisten aufgrund ihrer Erscheinung als besonders gefährdet gelten, bis hin zu Schüssen und Sprengstoffanschlägen auf Moscheen. Auch die klassischen Schweinekopfanschläge fanden zuhauf statt, gehörten allerdings zu den eher harmloseren Vorfällen. Abgesehen davon blieben wohl zahlreicher weitere Übergriffe im Dunkeln, da viele Betroffene sich wahrscheinlich nirgends meldeten.

Seit den Anschlägen im November haben sich ähnliche Vorfälle ereignet. Unter anderem wurden muslimische Lokale, Metzgereien und Moscheen angegriffen. Hinzu kommen die staatlichen Repressalien, die aufgrund des erhängten Ausnahmezustandes, der wenige Tage nach den Anschlägen um weitere drei Monate verlängert wurde, präsent sind. So fanden unter der Fahne des Antiterrorkampfes mindestens 2.200 Hausdurchsuchungen statt, mindestens drei Moscheen wurden geschlossen, während Hunderte von Muslime verhaftet wurden. Einige Franzosen schrecken mittlerweile sogar nicht davor zurück, die gegenwärtigen Zustände mit jenen unter der Vichy-Diktatur in den 1940er-Jahren zu vergleichen.

Gespaltene Gesellschaft

Zum gleichen Zeitpunkt versuchen vernünftige Stimmen, teils vergeblich, in die Debatte einzudringen. Einer von ihnen ist etwa der Soziologe, Historiker und Autor Emmanuel Todd, der kurz nach den Anschlägen im Januar sein Werk „Qui est Charlie?“ (Deutsche Ausgabe: „Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens“) veröffentlichte. Darin geht Todd der Frage nach, welche Gesellschaftsschicht Frankreichs sich tatsächlich mit „Charlie“ identifiziert, sprich, wer waren all die Menschen, die am 11. Januar auf den Straßen demonstrierten und behaupteten, „Charlie“ zu sein?

Todd kommt unter anderem zum Schluss, dass Frankreich sowohl politisch als auch ideologisch vom sogenannten MAZ-Block dominiert werde. MAZ steht in diesem Fall für Mittelschicht, Alte und sogenannten Zombie-Katholiken. Der MAZ-Block macht vor allem all jene Eliten aus, die um ihre Macht sowie um ihren Wohlstand fürchten. Für ihre Probleme machen sie hauptsächlich Migranten und Arbeiter verantwortlich, weshalb sich beide auf ihre Art und Weise radikalisieren.

Während Erstere, verbannt in den heruntergekommen Vorstädten, den Banlieues, immer gehässiger werden, lassen Letztere ihren Frust aus, indem sie in die Fänge des rechtsextremen Front National, einer Partei, die von einem Holocaustleugner gegründet wurde, laufen. Wenn man die jüngsten Erfolge des Front National in Betracht zieht, scheinen sich Todds Thesen, die hauptsächlich auf Empirie und demografischen Tatsachen beruhen, zu bestätigen.

Auch der französischen Linken attestiert Todd nahezu kollektives Versagen. Während Präsident Francois Hollande, der von so manchem weiterhin als Sozialdemokrat betrachtet wird, laut Todd sowohl der Prototyp eines Zombie-Katholiken als auch strenger Verfechter der neoliberalen Doktrin ist, haben die meisten Linken am 11. Januar deutlich gemacht, dass sie das System zwar in der Theorie ablehnen, es praktisch allerdings voll und ganz akzeptieren. Wäre dem nicht so, wären sie wohl kaum an jenem Tag hinter Hollande, Merkel, Juncker und anderen mitmarschiert, um – wie alle anderen, die präsent waren – für ihr „Recht, auf die Religion der Schwachen zu spucken“, wie es Todd bezeichnet, zu demonstrieren.

Die Muslime Frankreichs betrachtet Todd nicht nur als integriert, sondern als assimiliert, auch wenn der MAZ-Block das nicht einsehen möchte. Abgesehen davon gerät der französische Laizismus in heftige Kritik. Laut Todd ist dieser mittlerweile zu einer Art Ersatzreligion ausgeartet und ziele vor allem darauf ab, Muslime zu marginalisieren.

In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass Studien der Sorbonne- sowie der Stanford-Universität deutlich gemacht haben, dass Muslime im Vergleich zu Christen tatsächlich der laizistischen Gesetzgebung verstärkt ausgesetzt sind. Todd meint unter anderem, dass eine derartig entchristianisierte Gesellschaft, wie jene im post-revolutionären Frankreich, einen Sündenbock benötigt, den sie in Form des Islams wiedergefunden hat.

Die koloniale Vergangenheit hat Frankreich eingeholt

Seit „Qui est Charlie?“ ist Todd, der für seine kritische Haltung ohnehin schon bekannt war, für viele Franzosen zu weit gegangen. Vor allem jene, die sich mit „Charlie“ identifizieren, hat Todd auf ihr Allerheiligstes gespuckt, ja, mehr oder weniger „Blasphemie“ begangen, wie es die Tageszeitung „Libération“ kurz nach Erscheinen des Buches titelte.

Dabei hat Todd nur eines getan: Er hat, wie andere Kritiker, einen wunden Punkt getroffen. Dies tut auch Olivier Roy, ein französischer Politikwissenschaftler, der in diesen Tagen aufgrund seiner Expertise bezüglich Islam und Terror besonders gefragt ist. Auch Roy hebt vor allem die katastrophalen Zustände in den Banlieues hervor und spricht von einer Jugendrevolte, die – entgegen vieler Behauptungen – nicht viel mit dem Islam zu tun habe.

Diese Revolte, so Roy, lässt sich nicht lösen, indem man den IS in Syrien bombardiert. Sie würde auch nicht verschwinden, wenn der IS aufhöre zu existieren. Und auch dass junge, französische Muslime den IS als Auswanderungsalternative sehen, hat einen Grund. Sie betrachten ihn nämlich als tatsächliche Alternative, die besser sei als das Leben in seinem Staat, in dem institutionelle Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und so gut wie keine Zukunftsperspektiven vorhanden sind, sobald man nur noch als „Ahmad“, „Mohammad“ oder „Mustafa“ identifiziert und wahrgenommen wird.

Die koloniale Vergangenheit Frankreichs spielt in diesem Kontext weiterhin eine besondere Rolle. All die Gräueltaten der Franzosen, die noch vor wenigen Jahrzehnten in Algerien und anderswo präsent waren, haben sich in das Bewusstsein vieler Muslime gebrannt, während sie von der französischen Elite, sprich, von Todds MAZ-Block, weiterhin systematisch verdrängt werden.

Schon vor Jahren meinten kritische Geister, dass Frankreich sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen müsse, ansonsten werde sie von ihr eingeholt. Dies scheint nun tatsächlich der Fall zu sein. Aus seiner Vergangenheit hat das Land der selektiven Gleichheit allerdings nichts gelernt. Stattdessen agiert es weiterhin sowohl im Nahen Osten als auch in Nordafrika in neokolonialistischer Manier, während Zuhause die Gesellschaft vollständig zu zerbrechen droht.

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