Apartheid – Über den Vergleich zwischen Südafrika einst und Israel heute

 

Farid Esack, südafrikanischer Professor für Islamwissenschaften an der Universität Johannesburg, islamischer Befreiungstheologe und politischer Aktivist, war auf Einladung von BDS Austria Ende Juni in Wien und Graz. Farid Esacks Biographie als Muslim und Südafrikaner ist eng mit der Anti-Apartheidbewegung verknüpft. Seine Verdienste zur Niederringung der südafrikanischen Apartheid führten ihn 1994 als Gleichstellungsbeauftragten in die Regierung Nelson Mandelas. Heute ist Farid Esack neben vielen anderen Tätigkeiten auch in der südafrikanischen BDS-Bewegung aktiv.

In seinen Vorträgen beantwortete Farid Esack in breitem Bogen brennende Fragen rund um Israel/Palästina. Aus der Analyse der Möglichkeit eines Vergleichs der Apartheid in Israel und Südafrika zog er Schlussfolgerungen hin zu Verknüpfungen vielfacher Formen von Unterdrückung. Aus der Perspektive des Befreiungstheologen gab er mit seiner Definition von Moral als unbedingter und differenzierter Solidarität wesentliche Anstöße zur Reflexion. Diese führen unweigerlich zum Hinterfragen der eigenen Machtposition als Mensch im Globalen Norden und geben Anstoß klar Stellung zu beziehen.

Dass seine Vorträge große Unruhe unter den diversen prozionistischen Befürwortern der israelischen Politik hervorrief, zeigte sich an den vielen Hebeln, die in Bewegung gesetzt wurden, um die Veranstaltungen zu verhindern. In Wien kam es zu intensiven Interventionen bei LokalinhaberInnen, die ihre Räumlichkeiten für die Veranstaltung zur Verfügung stellen wollten, darunter auch gewerbliche Anbieter.

Im Vorfeld der Veranstaltung in Graz kam es zu Interventionen der Grünen Studierenden und der jüdischen Kultusgemeinde bei der Veranstalterin Tatjana Petrovic, Betreiberin des Kulturlokals Cuntra la Cultra in Graz/Griesplatz. Tatjana entgegnete entschieden mit dem Argument der freien Meinungsäußerung. Sie lud die KritikerInnen ein, zum Vortrag zu kommen und sich in die Diskussion einzubringen.

In Graz stellte Farid Esack stellte seinen Vortrag vor ca. 50 ZuhörerInnen unter zwei große Fragen: 1. Kann es einen Vergleich Israels mit Südafrika in der Frage der Apartheid geben? 2. Mit welchen Augen blickt man auf den Konflikt Israel/Palästina?

Zu Beginn wandte er sich der Frage zu, ob nun die Apartheid eine einzigartige Form von Unterdrückung sei und begegnet ihr mit der Gegenfrage, wer denn nun der/diejenige sei, der/die „unsere Unterdrückung“ beurteilen und bewerten kann? Es sei eine Arroganz in der Frage zu behaupten, dass “unsere Unterdrückung“ einzigartig ist. Es gäbe viele Formen von Unterdrückung, wie jene der Männer gegenüber Frauen, was eine Form von Gender-Apartheid ist. Die Betonung von „Einzigartigkeit“ sei der Sprache des Zionismus zuzurechnen. Solche Sprache betone die Idee der Verschiedenartigkeit und der Festlegung des „Wir und die Anderen“. Der Geist der Unterdrückten sei ein anderer: Großzügigkeit und Solidarität. „An injury to one is an injury to all.“

Kennzeichen von Apartheid

Damit ist der Bogen hin zur Beschreibung des Charakters von Apartheid geschlagen, denn die Besessenheit einer Idee von Identität, die sich ausdrückt über Abgrenzung, d.h. Aussagen wie „wir sind weiß“ oder „wir sind jüdisch“ und sogar „wir sind auserwählt“ diene der Klassifizierung und Kategorisierung anderer Menschen. Zudem komme es zu einer Zeitlosigkeit in der Zuschreibung bestimmter sozialer Charakteristiken an Menschen. Das werde deutlich, wenn sich Israel als ein Staat für die Juden beschreibt und das in Gesetze gießt. Viele JüdInnen jedoch seien mit dieser Idee der Exklusivität nicht einverstanden und bezeichnen die israelische Staats- bzw. Regierungsform als ein Apartheidsystem.

Farid Esack gibt einen Vergleich: Wenn ein Mann meint, es gäbe nur einen Weg seine Männlichkeit zu beweisen und das sei der Weg des Machos, dann sage er diesem Mann: „Zur Hölle mit deiner Männlichkeit!“ Es gäbe andere Wege Männlichkeit zu beweisen. Ebenso gäbe es andere Wege, jüdisch zu sein.

Wenn auf einer religiösen Ebene mit Auserwähltheit argumentiert werde, also die Überlegenheit über andere auf ein von Gott gegebenes Recht zurückgeführt wird, wird damit jede Kommunikation verunmöglicht. Schließlich könne man mit dem Gott des anderen nicht sprechen.

Was kennzeichnet Apartheid noch? Verschiedene Gebiete mit verschiedenen EinwohnerInnen gibt es überall und in jeder Gesellschaft. Doch wenn diese Verschiedenartigkeit zu einer Exklusivität für eine bestimmte Gruppe wird und diese das durch Dogma und Ideologie rechtfertigen will, noch dazu die Exklusivität in Gesetze gieße und sie ausführende Institutionen einsetze, dann ist das Apartheid. „And I don’t care how genuin is the trauma that gave birth to it, and I don’t care about what the depht of religious feelings behind it”, so Esack.

Israel sei als Staat ein Apartheidstaat. In den besetzten Gebieten sei das Leben schlechter als unter dem Apartheidregime in Südafrika. Eine Gruppe sei bevorteilt: In Südafrika waren es Menschen auf Grund ihres Weiß-Seins, in Israel sind es Menschen auf Grund ihres Jüdisch-Seins. In der Gesetzgebung spiegle sich dies vor allem hinsichtlich der Staatsbürgerschaft und des Landbesitzes wieder. Zwei wichtige Gesetze dazu sind das „absent property law“ und das „law of return“. Letzteres gehe davon aus, dass jüdische Menschen immer schon in Israel ansässig waren und daher ein „Recht auf Rückkehr“ inklusive Staatsbürgerschaft und allerlei Vorteilen (z.B. Wohnraum) hätten. Das alles auf Kosten der PalästinenserInnen. Sie seien BürgerInnen zweiter Klasse, z.B. was das Wahlrecht betrifft. Wenn jemand wählen will, oder anstrebt Teil der Knesset zu werden, dann muss er/sie zuerst die jüdische Exklusivität Israels akzeptieren. Israel könne als eine Apartheid-Ethnokratie charakterisiert werden. Rechte würden auf der Basis des „Jüdisch-Seins“ ausgestellt, nicht auf Basis der Bürgerschaft. Zudem gab es keine derartigen Restriktionen für Bewegungsfreiheit in Südafrika, wie jetzt in Palästina. Es gibt dort bis zu 500 Checkpoints und Straßenblockaden. Das System ähnle der südafrikanischen Apartheid, gehe aber  weit über diese hinaus.

Der Kontext ist wichtig

Für Farid Esack ist es wichtig Fakten im Kontext zu betrachten. Wieder gibt er ein Beispiel: Nelson Mandela ist heute Ehrendoktor an Universitäten rund um die Welt. Aber als er im Gefängnis war, haben dieselben Universitäten einen Boykott  Südafrikas verweigert. Als Mandela aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte ihn jeder als Lieblingsonkel umarmen. Erst 14 Jahre nachdem er Präsident Südafrikas geworden war, wurde er von der US-Terrorliste gestrichen.

Es komme darauf an, Sexismus zu erkennen, wenn er passiert und nicht 20 Jahre später, wenn Nicht-Sexismus ein „sexy-thing“ geworden ist. Mut bedeute, auf Unrecht zu reagieren, wenn es geschieht und dafür in Kauf zu nehmen, dass das Eintreten gegen dieses Unrecht Probleme mit sich bringt. Das sei ein Privileg, denn solches Handeln nützt dem höheren Ich des Menschen. Die eigene Humanität verringere sich durch das Schweigen. Denn es sei nicht möglich, dass eine andere Person erniedrigt wird, ohne dass nicht die eigene Menschlichkeit dadurch Schaden nimmt. Beleidigung und Erniedrigung anderer würden immer zu den Aggressoren zurückkehren.

Wieder veranschaulicht der Befreiungstheologe durch ein Beispiel: Wenn man antisemitische Kommentare hört, wird man zornig. Dies nicht nur deshalb, weil es einen selbst einmal ähnlich treffen könnte, sondern weil Antisemitismus die eigene Menschlichkeit verringert. Wenn es gestern gegen JüdInnen geht, geht es morgen gegen Muslime und dann gegen andere und wieder andere. Rassismus und Vorurteile seien nicht etwas, was so kommt und geht. Egal in welchem Sinne die eigenen Interessen verteidigt würden, es ist nur eine Frage der Zeit bis man selbst ein Opfer wird.

Moral sei etwas, was über die Interessen für die eigene Gemeinschaft hinausgeht. Wenn ein Muslim christliche Interessen in Pakistan verteidige, dann ist das Moral.

Dabei sei Selbstinteresse per se ist nichts Schlechtes. Dem Zionismus jedoch gehe es gar nicht so sehr um die Interessen der jüdischen Leute. Der politische Zionismus werde so gebaut, dass er den Interessen des Judentums völlig entgegengesetzt läuft. Er nutze das Judentum politisch aus und diene hegemonialen Interessen, die mit Öl und Besitz und strategisch-politischen Angelegenheiten in der Region zu tun haben.

Opfer und Solidarität mit den Opfern

Farid Esack spricht über Opfer und Solidarität mit den Opfern. Er erinnert an die furchtbaren grauenvollen Verbrechen des Holocaust an den JüdInnen in Europa. Seit es JüdInnen gibt, gäbe es Antisemitismus. Antisemitismus habe eine lange Geschichte in vielen Teilen der Welt.

Esack führt aus, dass das Opfersein zu einem besseren Ich führen müsse. Es dürfe nicht eine Waffe sein, um andere Opfer hervorzubringen. Zur Veranschaulichung  bringt er das Beispiel eines ausgebeuteten schwarzen Arbeiters in Südafrika, der am Abend seine Frau misshandelt. Sicher sei man solidarisch mit dem schwarzen Arbeiter. Wenn der aber seine Frau schlägt, müsse man mit ihr solidarisch sein. Entsprechend sieht sich Farid Esack weder mit den JüdInnen, noch mit den PalästinenserInnen solidarisch in einem ahistorischen Sinn. Es interessieren ihn die funktionalen Rollen dieser Identitäten heute. Die entscheidende Frage für jede/n von uns sei: Womit solidarisiere ich mich in diesem Moment?

Man werde die Leiden des schwarzen Arbeiters nicht ignorieren, auch wenn man im Moment mit seiner Frau solidarisch ist, noch werde man die Möglichkeit vergessen, dass er in Zukunft wieder Opfer werden kann. Aber man werde alles versuchen, um zu verhindern, dass er sein Leid an andere weitergibt. So agiere man in Solidarität mit der Frau und dem Mann.

Weiße Menschen waren selbst nie frei, als sie Schwarze unterdrückten. Ein Mann der seine Frau unterdrückt, ist nicht frei. Also war die Befreiung der Schwarzen in Südafrika auch die Befreiung der weißen Menschen. Die Befreiung des palästinensischen Menschen sei auch die Befreiung des jüdischen Menschen.

Mit welchen Augen blickt man auf die Welt?

Als Befreiungstheologe sei er es gewohnt durch die Augen der Unterdrückten und Besitzlosen zu schauen und mehr durch jene der Frauen als der Männer. Wenn er durch die Augen des Südafrikaners, als Überlebender des Kampfes gegen Apartheid, auf Israel/Palästina schaue, habe er ein Deja-vue. Wenn er mit den Augen des Muslims auf Jerusalem schaue, sieht er die ethnische Säuberung Jerusalems durch Jordanien 1948 bis 1967. Alle JüdInnen mussten Jerusalem verlassen und hatten keinen Zugang zur Klagemauer. Wenn er heute die jüdischen Frauen sehe, die um ihr Recht kämpfen an der Mauer zu beten, frage er sich, ob diese Frauen die Verbindung von ihrem Kampf mit dem der PalästinenserInnen wahrnehmen.

Hinterfragen der eigenen Position im globalen Machtgefüge

Wenn das Problem auf den israelisch-palästinensischen Konflikt oder israelisch-arabischen Konflikt oder die Situation im Mittleren Osten reduziert werde – was sagt das über uns aus? Sehen wir unsere Machtinteressen gefährdet? Verweigern wir die Störung unserer Komfortzone?

Farid Esack fragt die Menschen aus dem Globalen Norden direkt: Welches gemeinsame Interesse habt ihr mit eurem europäischen Erbe, Ethnien, Klassen, zivilisatorischen Werten, ökonomischen Interessen? Was verteidigt ihr, wenn ihr euch weigert, die Zusammenhänge zu erkennen oder sie auszusprechen, wenn ihr sie erkannt habt?

Wie kommt es dazu, dass Leute, die das Herz am rechten Fleck haben, dann wenn es um Israel/Palästina geht, plötzlich sagen: „Hoppla, wir wissen darüber nichts…“? Warum muss jemand leiden, weil jemand anderer gelitten hat? Welcher Geschichte folgt man wirklich? Welchen Interessen dient man, wenn man sich auf welche Seite stellt oder eine falsche Neutralität verlautet?

Farid Esack zum Abschluss: Man müsse einen Kontext haben. Er wähle die Perspektive  durch die Augen der Marginalisierten und Ausgebeuteten. Die Wahl des Blicks hänge davon ab, wo man sich in den Machtstrukturen positioniert. Schweigen hingegen bringe Komplizenschaft hervor.

“However small a minority they may have been, only those who refused to turn a blind eye to the persecution of the jews by the nazis and those who refused to be silent; – only they were civilised. All others have jewish blood on their hands.”

Diskussion

In der Diskussion ging Farid Esack auf die gegen ihn im Vorfeld in der Jerusalem Post geäußerten Diffamierungen und auf die Antisemitismus- Vorwürfe gegenüber der BDS-Kampagne ein. Ebenso wurde die Frage nach der Rolle der Gewalt in Befreiungskämpfen angeschnitten und die Frage nach einer möglichen Zukunftsoption für Israel/Palästina. Esack betonte die wichtige Rolle von Juden und JüdInnen die Seite an Seite mit MuslimInnen im südafrikanischen Befreiungskampf aktiv waren. Er sprich sich nochmals gegen die Privilegierung einer Art von Rassismus gegenüber einer anderen aus, wobei er betont sich des Antisemitismus im globalen Süden und unter MuslimInnen bewusst zu sein, und mit allen Kräften dagegen anzugehen.

Die Veranstaltung kann nachgehört werden unter: https://soundcloud.com/user-20048632/farid-esack-29062017

Die StFp hat Vortrag und Diskussion übersetzt und wird eine Broschüre herausgeben.

Helga Suleiman
(Oktober 2017)

https://www.solidarwerkstatt.at/medien/disskusion-briefe/apartheid-ueber-den-vergleich-zwischen-suedafrika-einst-und-israel-heute

 

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