Opinion: Heute schaeme ich mich, ein Israeli zu sein
Die Gruendervaeter des israelischen Staates betrachteten die Prinzipien der Gleichheit und das Streben nach Frieden als das Grundgestein der Gesellschaft, welche sie schaffen wollten. Was ist passiert?
Daniel Barenboim – 22. 7. 2018
Original: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-today-i-am-ashamed-to-be-an-israeli-1.6294754
2004 habe ich in der Knesset eine Rede vor dem israelischen Parlament gehalten. Ich sprach damals ueber die Unabhaengigkeitserklaerung des Staates Israel. Ich nannte sie ‘ eine Quelle der Inspiration um an Ideale zu glauben, welche uns von Juden zu Israelis machte’.
Weiters sagte ich dass ‘ dieses wichtige Dokument eine Verpfichtung ausdrueckt: “der Israelische Staat wird sich dafuer einsetzen, dass die Entwicklung dieses Landes allen seinen Menschen zugute kommt; er wird auf den Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens aufgebaut werden, gefuehrt von den Visionen der Propheten Israels, er wird allen seinen Staatsbuergern volle Gleichheit der sozialen und politischen Rechte garantieren, unabhaengig von ihrer Religion, Rasse oder Geschlecht; er wird freie Religionsausuebung, Gewissensfreiheit, Freiheit bei der Wahl der Sprache, Bildung und Kultur garantieren.””
Die Gruendervaeter des israelischen Staates, welche die Deklaration unterschrieben, betrachteten die Prinzipien der Gleichheit als das Grundgestein der Gesellschaft, welche sie schaffen wollten. Sie verpflichteten sich selbst und uns auch dafuer, “Frieden und gute Beziehungen mit allen Nachbarstaaten und –menschen zu erreichen”.
70 Jahre danach hat die israelische Regierung ein neues Gesetz verabschiedet, welches die Prinzipien der Gleichheit und universellen Werte durch Nationalismus und Rassismus ersetzt.
Es erfuellt mich mit grosser Sorge, dass ich heute die gleiche Frage stellen muss, die ich vor 14 Jahren in der Knesset stellte: Koennen wir den unertraeglichen Abgrund zwischen dem, was die Unabhaengigkeitserklaerung versprach und dem, was ausgefuehrt wurde ignorieren, der Abgrund zwischen der Idee und der Realitaet Israels?
Passen Besetzung und Vorherrschaft ueber ein anderes Volk zur Unabhaengigkeitserklaerung? Besteht irgendein Sinn in der Unabhaengigkeit des Einen auf Kosten der Grundrechte des Anderen?
Koennen die juedischen Menschen, deren Geschichte eine Abfolge von Leiden und Verfolgung ist, sich selbst erlauben, dem Leiden eines Nachbarvolkes gleichgueltig gegenueberzustehen?
Kann sich der israelische Staat den unrealistischen Traum erlauben, dass der Konflikt ein ideologisches Ende finden werde, anstatt eine pragmatische, humanitaere auf sozialer Gerechtigkeit basierende Loesung zu verfolgen?
Nach 14 Jahren glaube ich noch immer, dass trotz aller objektiver und subjektiver Schwierigkeiten, die Zukunft Israels und seine Position in der Familie der erleuchteten Nationen von unserer Faehigkeit abhaengt, die Versprechen, welche die Gruendervaeter in der Unabhaengigkeitserklaerung verankerten, zu verwirklichen.
In Wirklichkeit hat sich seit 2004 noch nichts veraendert. Ganz im Gegenteil, wir haben jetzt ein Gesetz, welches die arabische Bevoelkerung zu Zweite-Klasse-Staatsbuergern erklaert. Das ist daher eine klare Form von Apartheid.
Ich glaube nicht, dass das juedische Volk 20 Jahrhunderte ueberlebte, meist verfolgt und unbeschreiblichen Grausamkeiten ausgesetzt, damit es jetzt zum Unterdruecker wird, das an Anderen Grausamkeiten ausuebt. Aber genau das macht das neue Gesetz.
Deshalb schaeme ich mich heute, ein Israeli zu sein.
Daniel Barenboim ist der Generaldirektor fuer Musik an der Mailaender Scala, der Staatsoper von Berlin und der Staatskapelle Berlin. Zusammen mit dem verstorbnen Edward Said gruendete er das Orchester West-Oestlicher Diwan, ein Orchester mit Sitz in Sevilla fuer junge arabische und israelische MusikerInnen.
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