Siedlergewalt
Ein Brief von Suhair Abdi, Leiter der Datenkoordierungsabteilung von B’Tselem. B’Tselem ist das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten. Es versucht, die Okkupation (Besetzung) zu beenden, weil das die einzige Möglichkeit ist für eine Zukunft, in der Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Gleichheit für alle Menschen – Palästinenser und Israelis – zwischen dem Tal des Jordan und dem Mittelmeer gelebt werden können.
Siedlergewalt ist ein nicht offizielles Mittel des Staates Israel, um sich palästinensisches Land anzueignen.
https://www.btselem.org/settler_violence_update
Liebe …
Natürlich ist der COVID-19 Virus für uns alle ein Ärgernis und eine Bedrohung – in Israel, in den besetzten Gebieten und weltweit. Aber auch die Verletzungen der Menschenrechte gehen weiter – und damit auch unsere Arbeit.
Ich erzähle von einigen besonders gravierenden Ereignissen aus der letzten Zeit:
Straßen blockieren, Steine und Molotov-Cocktails auf Autos und Häuser werfen, nachts Dörfer überfallen, Häuser und Felder anzünden, Bäume ausreißen, Privateigentum beschädigen; Menschen angreifen und auf sie schießen: Siedlergewalt gegen Palästinenser ist seit Langem Routine geworden. Diese tägliche schwere Gewalt hat zum Ziel, die Palästinenser aus ihrem Land zu vertreiben und klar zu stellen, wer das Sagen hat – voll gedeckt durch die israelische offizielle Politik in der Westbank.
Ich arbeite seit 2003 in der Daten-Koordinierungsstelle von B’Tselem und bin seit 2016 der Chef. Während der Jahre haben wir tausende Angriffe von Siedlern untersucht und dokumentiert. Leider sind es so viele, dass nicht jeder Angriff veröffentlicht werden kann und viele Fälle nur im Archiv bleiben. Um die Häufigkeit und Schwere dieser Fälle weiterzugeben, haben wir uns zu einem neuen Blog auf der Website von B’Tselem entschlossen, (https://www.btselem.org/settler_violence-updates), um den Menschen eine Stimme zu geben, die diesen Gewaltakten ausgesetzt sind. Ihre Hilflosigkeit kommt stark heraus in den Zeugenaussagen, die sie unseren Feldforschern geben. Sie alle wissen, dass niemand eingreift, um sie gegen wiederkehrende Angriffe zu schützen, und dass ihre Chancen, an Gerechtigkeit oder Kompensation zu kommen, winzig bis nicht existent sind.
Es ist hart, sich indigniert oder hoffnungslos zu fühlen angesichts einiger dieser Geschichten. Andere sind wahrhaft unerträglich. Es ist hart, von dem ständigen Mitgefühl mit den Eltern des 16jährigen Muhammad Abu Khdeir aus Shu’afat abzulassen, der von drei israelischen Zivilisten entführt und lebend verbrannt wurde. Man kann den Ehemann und die acht Kinder von Aisha Rabi nicht vergessen;
sie wurde mit einem Stein ermordet, der nahe der Siedlung Rehelin auf ein Auto geworfen wurde, in dem sie saß. Es ist unmöglich, das Bild von Ahmad Dawabsheh aus dem Kopf zu bekommen, der an Verbrennungen am ganzen Körper litt und seine ganze Familie verlor, als ihr Haus in Duma von Siedlern angezündet wurde.
(https://www.btselem.org/press_release/ 20150731_killing_of_baby_in_duma).
In allen drei Fällen ging das israelische System der Rechtsprechung an die Arbeit und Anklagen wurden ausgestellt. Aber das sind Ausnahmen von der Regel. Hunderte Gewalttäter wurden nie gefangen genommen und nie verhört. In den meisten Fällen haben die Behörden nicht einmal versucht, die Übeltäter auszumachen. Bei einigen waren Sicherheitskräfte in der Szene gegenwärtig – und taten nichts, oder noch schlimmer: sie kooperierten mit den Siedlern.
So verurteilt Israel Palästinenser zu einer Realität der Gesetzlosigkeit und ohne Unterstützung ihrer Lebensrechte. Die Behörden geben den gewalttätigen Siedlern Rückenstärkung und helfen ihnen sogar mit dem Ziel, soviel palästinensisches Land als möglich an sich zu reißen. Das ist die tägliche, nicht zu tolerierende, unannehmbare Realität, die ans Licht gebracht werden muss.
Mit freundlichen Grüßen
Suhair Abd …
Leiter der B’Tselem-Daten Koordinierungsabteilung
*Zwei Jahre sind vorüber, seitdem die Rückkehrmarsch-Demonstrationen in Gaza begonnen haben, um die israelische Blockade zu beenden und das Rückkehrrecht der Palästinenser zu erfüllen. Die Anzahl der Zwischenfälle ist enorm: mehr als 200 Personen wurden ermordet, 8.000 verwundet, darunter 1.500 Jugendliche; 155 Amputationen mussten durchgeführt werden, 27 Personen sind gelähmt. 21 Personen verloren ein Auge, 1 Person beide. (https://www.btselem.org/firearms/2020024_eye_injuries_in_gaza-protests). Die Kugeln und Tränengaskanister, die auf die Demonstranten abgefeuert wurden, haben deren Leben unwiderruflich verändert. Viele Arten von Heilbehandlungen sind in Gaza nicht zu haben, und Israel benutzt seine Grenzkontrollen, um fast alle Forderungen nach ordentlicher Behandlung außerhalb von Gaza, in der Westbank und in Ostjerusalem zu verweigern. So schaut Rache aus! (https://www.btselem.org/firearms/20200130_shoot_and_abandon_in gaza_155_amputees_and_27_paralyzed_in_two_years_of_protests)
*Gegen Jahresende 2019 hielt Israel 186 palästinensische Jugendliche in den Anlagen des „Israel Prison Service (IPS) fest. Vier waren in Administrativhaft. Von Militärgerichten verhörte Jugendliche (und Erwachsene) können keinen ordentlichen Prozess erwarten und die Rechtsverfahren gegen sie enthalten systematische Verletzungen ihrer Rechte. An keinem Punkt gibt man ihnen eine realistische Chance, ihre Unschuld zu beweisen, und die Rolle der Richter ist beschränkt auf die Unterschrift unter ein zwischen Anklage und Verteidigung vorher abgestimmtes Papier. In der Administrativhaft wissen die Jugendlichen nicht einmal, wann sie freigelassen werden, weil die Haft undefiniert verlängert werden kann. Die Feldforscher von B‘Tselem sammelten Zeugenaussagen im Falle von drei Jugendlichen, die in Administrativhaft einsaßen, in denen die Schwierigkeiten beschrieben sind, denen sie ausgesetzt sind.
(https://www.btselem.org/administrative_detention/2020009_for_teenagers_held_for_months_without_trial)
*IPS hielt Ende Dezember 2019 4.544 palästinensische Gefangene oder „aus Sicherheitsgründen Festgehaltene“ gefangen. Jeder dieser Einsitzenden hat eine Familie – Eltern, Babys, Kinder – die sie im Gefängnis besuchen wollen; aber sie hängen dazu ab von einer Erlaubnis von Israel. Einige Verwandte entdecken, dass sie als „aus Sicherheitsgründen Festgehaltene“ klassifiziert sind, und dass ihnen verboten ist, ihren jahrelang ohne Ende und ohne nähere Erklärung im Gefängnis festgehaltenen Vater, Sohn oder Bruder zu besuchen. Die Glücklicheren erhalten die Erlaubnis – und verbringen 17 anstrengende Stunden mit einer Reise durch Checkpoints, Untersuchungen, Demütigungen und unterschiedliche Verbote – um schließlich ihre Lieben hinter einer dicken gläsernen Trennwand nur 45 Minuten lang zu sehen, ehe sie die lange Reise zurück antreten müssen. Feldforscher von B’Tselem haben Zeugenaussagen von Verwandten der Gefangenen bekommen, die sich dieser Prozedur unterzogen.
(https://www.btselem.org/freedom_of_movement_20200212_arduous_journey_of_palestinians_
visiting_relatives_jailed_by_israel)
*Eine neue Einschaltung auf unserem Fotoblog lädt Sie in den Bezirk Batan al-Hawa in Silvan, Ostjerusalem ein (https://www.btselem.org/photoblog/232002_batan_al_hawa). Diese Nachbarschaft wurde absichtlich von den israelischen Behörden vernachlässigt – vor allem von der Stadtregierung von Jerusalem – weil das Gebiet annektiert worden war; kürzlich wurde sie mit farbenprächtigen Wandmalereien geschmückt, die den Verfall, die überladene Infrastruktur und die Verzweiflung verstecken helfen. Jedoch kann nichts die Bemühungen der Siedlerorganisation Ateret Cohanim verbergen, die unterstützt und ermutigt durch die israelischen Behörden und sanktioniert durch die Gerichte ungefähr 700 Palästinenser aus ihren Häusern mit falschen Begründungen ausweisen möchte. In den letzten Wochen allein hat der Gerichtsstand des Magistrats in drei voneinander getrennten Fällen die Vertreibung von 47 Personen – darunter 14 Jugendlichen – aus ihren Wohnungen veranlasst, die dann von Siedlern bezogen werden sollen.
*Was wollen Eltern und Lehrer den Viertklasslern von Khirbet Susiya sagen, wenn diese fragen, warum Leute von der Zivilverwaltung gemeinsam mit Offizieren der Grenzpolizei den Fertigteilbau weggenommen haben, der ihre Schule war?
(https://www.btselem.org/video/20200225_khirbet_susiya_classroom_confiscation#full)
Ein Lehrer und eine ganze Klasse haben keinen Klassenraum mehr – und das Dorf bekommt keine Antworten.
*Die Infrastruktur von Gaza ist vor langer Zeit zusammengebrochen, und die Bewohner leiden an einem extremen Wassermangel, einer minimalen Stromversorgung und an einem kaum funktionierenden Kanalsystem. Durch Israels wiederholte Luftangriffe wurden tausende Wohnungen beschädigt, wodurch tausende Menschen obdachlos geworden sind. Hunderttausende Frauen und Mädchen müssen im Augenblick zurechtkommen mit der sich verstärkenden Arbeitslosigkeit und unerträglichen Lebensbedingungen. Zum Internationalen Frauentag bestand der Beitrag von B’Tselem darin, fünf Frauen zu Wort kommen zu lassen, die beschrieben haben, wie sie mit der unmöglichen Realität zurechtzukommen, die ihnen auferlegt wird.
(https://www.btselem.org/20200308_womens_day_overcoming_odds_in_gaza)
In den Medien:
*Egal, wer die Wahlen gewinnt, das Bild von Israels Sieg ist klar (https://www.972mag.com/israel-victory-elections-palestine-defeat) (https://www.972mag.com/writer/hagai-elad) , Op_Ed von Hagai El-Ad, Exekutivdirektor von B’Tselem, +972 Magazin
*Wie Trump’s Mittelost-Plan das Völkerrecht verletzen würde, ein Artikel von Mia Swart, Aljazeera
*Wie Israel Gaza mit alten Mitteln „blind-bombardiert“; ein Artikel von Bel Trew nt“„Independent“ (https://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/israel-strikes-gaza-palestine-air-force-military-bomb-un-a9330876.html)
*Die Tür des IDF-Jeeps wurde aufgerissen – Eine einzige Kugel traf den Palästinenser am Hals,
Artikel von Gideon Levy, Haaretz (https://www.haaretz.com/middle-east-news/premium-the-idf-jeep-s-door-swung-open-a-single-bullet-hit-the palestinian-s-neck-1.8595418)
*Der Krieg gegen die Demokratie Israels, Artikel von Zack Beauchamp, auf Vox
(https://www.vox.com/policy-and-politics/2020/2/27/210/2107 5868/israeli-democracy-war-netanyahu)
Danke für Ihre Unterstützung, für Ihr Mitdenken und Ihre aktive Partnerschaft
(Übersetzung: Gerhilde Merz)
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B’Tselem ist das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten. Es versucht, die Okkupation (Besetzung) zu beenden, weil das die einzige Möglichkeit ist für eine Zukunft, in der Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Gleichheit für alle Menschen – Palästinenser und Israelis – zwischen dem Tal des Jordan und dem Mittelmeer gelebt werden können.
B’Tselem ist unabhängig und wird von verschiedenen Organisationen in Europa, in Israel und in den USA unterstützt.
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