Wer hilft Gaza?

Kriegsverbrechen ahnden: Menschenrechtler fordern Palästinenser auf, dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten und Israel zur Rechenschaft zu ziehen Norman Paech


Die Gespräche zwischen Vertretern Israels und der palästinensischen Hamas in Kairo sind gescheitert, im Gazastreifen sprechen seit Dienstag wieder die Waffen. Bis Mittwoch mittag hatte die israelische Armee mehr als 70 Ziele in dem dichtbesiedelten Gebiet bombardiert. Es ist offensichtlich: Israels Regierung – das hat uns das Massaker von der Jahreswende 2008/2009 gelehrt und bestätigen uns täglich Äußerungen aus Regierung und Armee – wird die Blockade gegen Gaza nicht aufheben. Es wird keinen Seehafen, der schon im Oslo-Abkommen 1993 versprochen war, geben, die Fischereizone wird nicht auf das internationale Maß erweitert werden, jeder Sack Zement und jede Palette Material zum Wiederaufbau wird zeitraubend inspiziert und eventuell zurückgewiesen werden. Selbst wenn der Krieg sofort endet, es wird noch lange dauern, ehe das zerstörte Kraftwerk, die zusammengebrochene Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung wieder arbeiten können: Gaza bleibt für die überlebenden Palästinenserinnen und Palästinenser ein Gefängnis wie bisher und Israel ihr gnadenloser Wärter. Das nur deswegen, weil die Regierungen der USA und der EU-Staaten ihre Werte von Freiheit und Menschenwürde zwar um jede Ecke der Welt tragen, aber nicht wagen, sie auch nach Israel zu bringen. Welches Attribut man dafür auch wählt, ob Doppelmoral, Zynismus, Feigheit oder kriminelle Kumpanei, das jahrzehntelange Versagen der Regierungen, in dieser uns so naheliegenden Region auch nur einfache Bedingungen des Friedens und der Menschlichkeit einzurichten, muß offensichtlich etwas mit der verkommenen Verfassung dieser Wertegesellschaft selbst zu tun haben.

Doch was bleibt den Palästinensern? Wenn von den mächtigen Staaten nur Geld zur Renovierung des Gefängnisses zu bekommen ist, dürften die Erwartungen gegenüber der UNO und der internationalen Rechtsordnung nicht viel größer sein. Nun hat jedoch der Präsident des UN-Menschenrechtsrats, Baudelaire Ndong Ella, den Beschluß des Rats vom 23. Juli 2014 umgesetzt und eine dreiköpfige Kommission unter Leitung des kanadischen Völkerrechtlers William Schabas eingesetzt. Ihr Auftrag lautet, »alle Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten in den besetzten Gebieten inklusive Ost-Jerusalem, insbes. im besetzten Gazastreifen, im Kontext der militärischen Operationen seit dem 13. Juni zu untersuchen«. Das allein bewirkt noch nichts, wie wir aus den Erfahrungen mit dem Bericht der Goldstone-Kommission 2009 wissen. Seine zahlreichen Empfehlungen, unter anderem den Bericht offiziell an den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) weiterzuleiten, sind alle ohne Folgen geblieben. Dennoch hat sich sofort danach in Israel und bei den zahlreichen ausländischen Lobbygesellschaften ein Sturm der Empörung gegen den Vorsitzenden und das ganze Unternehmen erhoben. Ein Mitglied der neuen UN-Kommission, die englische Rechtsanwältin Amal Ramzi Alamuddin, hat sich bereits zurückgezogen. Die Kommission wird ihre Arbeit allerdings aufnehmen und bis zum 15. März 2015 ihren Bericht vorlegen. Aber auch dieser wird den Palästinensern nur helfen, wenn sie ihre Sache selbst in die Hände nehmen.

Vor Gericht ziehen

Seit Monaten drängen internationale und palästinensische Initiativen Präsident Mahmud Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), dem IStGH beizutreten, das Römische Statut zu unterzeichnen und die Verantwortlichen der israelischen Regierung und Armee vor Gericht zu ziehen. Die Indizien für schwere Kriegsverbrechen sind unübersehbar. Die UNO zählt über 2000 Tote, darunter mehr als 440 Kinder und 300 Frauen. Bei den Angriffen in den vergangenen Wochen wurden ganze Familien getötet. Mehr als 10000 Palästinenser sind verwundet worden, davon über 1500 Kinder. Drei Viertel der Opfer sollen Zivilisten sein. Unter den Trümmerfeldern verschwanden über 16000 Wohnungen, 76 Moscheen, zwei Kirchen, 25 Krankenhäuser und -stationen, nicht zu zählen die Schulen, Universitäten, Büchereien, Spielplätze Friedhöfe etc., die Ziele von Angriffen mit Raketen und Artillerie geworden sind. Das wird man nicht einfach als »Kollateralschäden« abtun können. Ein klarer Fall für den hohen Strafgerichtshof.

Unter den Organisationen, die den Beitritt zum IStGH fordern, befinden sich Amnesty International, Human Rights Watch, Al-Haq und die Internationale Juristenkommission – keine Leichtgewichte im Feld der Menschenrechte. Doch die USA stehen auch hier hinter Israel, das diesen Schritt vehement ablehnt. Denn sie wissen, daß der IStGH »wirklich eine echte Bedrohung für Israel ist«, wie es die UN-Botschafterin der USA, Samantha Power, ausdrückte. Deutschland und Frankreich begründen ihre Ablehnung mit dem albernen Argument, daß die Einschaltung des Gerichts die »Verhandlungen über den endgültigen Status« Palästinas im Rahmen einer Zweistaatenlösung torpedieren könnte, als wenn dieses Wahngebilde überhaupt noch einen Realitätsgehalt hätte.

2009 hatte Abbas den Beitritt zum Römischen Statut schon einmal versucht. Er scheiterte damals am Generalankläger Luis Moreno-Ocampo, der Zweifel an der Staatsqualität Palästinas hatte und die Entscheidung an den UN-Sicherheitsrat überwies. Die Anerkennung Palästinas als »Beobachterstaat ohne Mitgliedsstatus« durch die UN-Generalversammlung am 29. November 2012 änderte die Situation jedoch, so daß Moreno-Ocampo – heute nicht mehr beim IStGH – die Chancen für Palästina, dem Statut beizutreten, jetzt positiv einschätzt. Viele vertreten sogar die Meinung, daß die neue Anklägerin, Fatou Bensouda, die Untersuchungen auch ohne erneuten Antrag der Palästinenser aufnehmen könnte.

Doch es gibt ein weiteres Hindernis. Israel hat den Beitritt zum Gericht immer abgelehnt und wird zweifelsohne nicht bei der Untersuchung des Kriegsgeschehens kooperieren. Haftbefehle werden keine Wirkung zeigen, Israel wird anzuklagende Politiker oder Militärs nicht ausliefern. Abbas zögert nicht nur deswegen, einen neuen Antrag zu stellen. Er steht unter mächtigem Druck der USA und fürchtet nicht zu Unrecht die Drohungen der israelischen Regierung, die Daumenschrauben noch schärfer anzuziehen durch Einbehaltung der Steuern und Zölle oder offizielle Annexion weiteren palästinensischen Territoriums, sollte sich die PA zu einem erneuten Antrag entschließen. Denn er weiß, daß jede Maßnahme der israelischen Regierung, mag sie noch so aggressiv und rechtswidrig sein, die Unterstützung des US-Kongresses finden wird, dem sich die europäischen Regierungen ohnehin unterwerfen. Außerdem gibt es keine Gewißheit darüber, ob sich der Gerichtshof nicht zunächst und vor allem mit den Raketen der Hamas und ihrem unterschiedslosen Einsatz auch gegen zivile Einrichtungen in Israel beschäftigt.

Mauer der Immunität

Alle diese Befürchtungen finden ihre Begründung in der erst kurzen Geschichte des IStGH seit 2000. Er hat nie seinen im Römischen Statut, verankerten Anspruch einlösen können, eine unparteiische, faire und überparteilich neutrale Gerichtsbarkeit ohne Ansehen der Person und ihrer politischen Position zu praktizieren. Seine Spruchpraxis ist eine Siegerjustiz geblieben. Ausschließlich afrikanische Täter haben sich vor dem Gerichtshof verantworten müssen. Keiner der Verantwortlichen der großen Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen oder Gaza ist zur Rechenschaft gezogen worden.

Wenn den Palästinensern dennoch der Beitritt zum Gerichtshof dringend empfohlen wird, so nicht in der Illusion, daß sich diese Defizite in Kürze beheben ließen. Das Gericht muß dazu gezwungen werden, die Mauer der Immunität, die sich um die politischen und militärischen Führer der notorischen Siegerstaaten gebildet hat, zu durchbrechen. Das ist nur mit einer permanenten Herausforderung des Gerichts zu unvoreingenommener und unabhängiger Rechtsprechung angesichts derart offensichtlicher Verstöße gegen das internationale Strafrecht zu erreichen. Mit der Untersuchung und Offenlegung schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in den Artikeln fünf bis neun des Römischen Statuts definiert werden, erfüllt das Gericht bereits eine wichtige Funktion zur Klärung der Vorwürfe und Dokumentation der Fakten, selbst wenn es nicht zu einer Verurteilung der Täter kommt.

Die Hamas wird zweifellos wie seinerzeit schon der Goldstone-Kommission auch dieser Mission alle Wege zur Untersuchung auf ihrem Territorium öffnen. Die Einschaltung des IStGH könnte nach den Worten des ehemaligen Sonderbeauftragten der UNO für die besetzten Gebiete, Richard Falk, dazu führten, daß der Gerichtshof doch stärker herausfordert wird, »schließlich doch das geopolitische Veto zu überwinden, welches bis jetzt die strafrechtliche Verantwortlichkeit in dem engen Kreis der ›Siegerjustiz‹ begrenzt hält und deshalb den Völkern der Welt nur ein von Macht belastetes und voreingenommenes Bild der Justiz liefert«.

Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.

http://www.jungewelt.de/2014/08-21/043.php

21.08.2014 / Schwerpunkt / Seite 3

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