Stellungnahme der Steirischen Friedensplattform zu den Razzien am 9.11. gegen muslimische MitbürgerInnen
Die Razzien des 9.11. gegen angebliche Mitglieder der Organisation „Muslimbruderschaft“ wurden mit extremer Schärfe ausgeführt.
Das gibt Anlass zur Frage: Seit wann rechtfertigt die Vorlage für eine Anklage wegen vermeintlicher „Terrorfinanzierung“ das Aufmarschieren von Cobra-Einheiten in Privatwohnungen um 4 Uhr früh, die Traumatisierung von Kindern und Verursachen von nachhaltigen Angstzuständen in der muslimischen Community? Obwohl durch 21.000 Observationsstunden wohl bereits klar war, dass es sich nicht um bewaffnete Menschen handelte.
Einige der mittels Razzia und bislang ohne Akteneinsicht Inkriminierten waren über lange Jahre beliebte LehrerInnen an Schulen, VertreterInnen von Moscheen, die den interreligiösen Dialog pflegten und regelmäßig zu den „Tagen der offenen Moscheen“ einluden. Sollen jetzt alle jene, die jahrelang bekannt und befreundet mit den Betroffenen waren, an ihrer Wahrnehmung zweifeln? Sollen in Zukunft Misstrauen und Angst jede Nähe zu MuslimInnen von vorneherein verhindern?
Sollen umgekehrt die MuslimInnen sich enttäuscht von der bisherigen aktiven Dialogarbeit abwenden und ihrerseits ängstlich jeden Kontakt meiden? Nach den Exklusionsprozessen von muslimischen MitbürgerInnen in den letzten Jahren droht nun pauschale Kriminalisierung und damit einhergehend eine Entsolidarisierung und weitere Polarisierung in unserer Gesellschaft.
Der verantwortlich zeichnende Staatsanwalt Winklhofer ist offensichtlich nicht Willens oder in der Lage, solche weiterführenden Überlegungen anzustellen. Dabei beschädigen unverhältnismäßige Drangsalierungen und Zuschreibungen von Terror oder Terrornähe ohne wirklich gut fundierte Belege das Rechtssystem und haben schwerwiegende gesellschaftliche Langzeitfolgen.
Gleichzeitig ist es auch die Verantwortung von Vorgesetzten und des Ministeriums, nicht zuzulassen, dass immer die selben Personen sich vorwiegend mit ähnlich gelagerten Delikten beschäftigen müssen oder dürfen. Es besteht die Gefahr des Tunnelblicksyndroms. Es ist völlig unverständlich, warum gerade in Graz und oft vom selben Staatsanwalt im österreichweiten Vergleich so viele Prozesse mit einem vorausgesetzten islamistischen Kontext verhandelt werden.
Erschreckend ist schließlich der offensichtliche geopolitische Hintergrund des polizeilich ramboartig umgesetzten Hausdurchsuchungsauftrages des Staatsanwalts. Wie mehrere Medien berichteten, gingen die Ermittlungen gegen die Muslimbruderschaft auf den Wunsch und Informationen des ägyptischen und israelischen Geheimdienstes zurück. Beide Staaten sehen in der Muslimbruderschaft eine Gefahr für ihre machtpolitischen Interessen. Unsere Justiz macht sich damit zum Handlanger der extrem repressiven Militärdiktatur in Kairo und der brutalen Unterdrückung des Widerstands des palästinensischen Volkes für ihre völkerrechtlich verbrieften Rechte durch die Politik Israels. Auch das Interesse der Feudaldiktaturen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten am Vorgehen der österreichischen Justiz kann vorausgesetzt werden.
Die Razzien sind von der Staatsanwaltschaft Graz ausgegangen. Mit dem dafür verantwortlich zeichnenden Staatsanwalt Winklhofer hat auch die Steirische Friedensplattform bereits Bekanntschaft gemacht.1
Dieser Staatsanwalt erhob 2017 – drei Jahre nach dem Geschehen – Anklage gegen A.M., einen jungen, ägyptischen Staatsbürger. Er wurde im Kontext seiner Teilnahme an der Demo gegen das brutale Vorgehen der israelischen Armee im Gazakrieg im Juli 2014 wegen dreier Delikte angeklagt, darunter jenes der Verhetzung.
Auf der Demonstration hatten vier unbekannte Männer eine Provokation der legal Demonstrierenden verursacht, indem sie die israelische Fahne hochhielten, dazu Grimassen schnitten und die Demonstrierenden beschimpften. Trotz der in der Nähe befindlichen PolizistInnen kamen die vier Provokateure völlig unbehelligt davon.
Der Staatsanwalt argumentierte sinngemäß, dass M. in die (nicht angemeldete, also illegale)„Gegendemonstration“ eingegriffen habe, und so deren Meinungsfreiheit verhindert habe. Das Wichtigste schien ihm aber zu sein: Mit dem Zerreißen der Nationalflagge Israels sei gegen die Religionsgemeinschaft der Juden gehetzt worden.
Als Beweis für diese vom Staatsanwalt titulierte „Verhetzung“ wurde das R4bia-Zeichen angeführt. Es sei eine „Solidaritätsbekundung der Muslimbrüderschaft“. Beweise dafür wurden mit wikipedia-Zitaten erbracht. Doch sogar mit genau solchen zweifelhaften Quellen2 lässt sich aber auch belegen, dass das Zeichen „eine Bedeutungserweiterung erfahren hat, hin zu Protest gegen Diktatur und Willkürherrschaft im Allgemeinen.“
Von der völlig einseitig-politischen Interpretation dieses Zeichens ausgehend, spannte der Staatsanwalt den Bogen hin zur Hamas und unterstellte so M. und den DemonstrationsteilnehmerInnen „in Hinblick auf die Hamas-Charta hetzend“ gewirkt zu haben.
Die Friedensplattform analysierte in einem Offenen Brief an Staatsanwalt und Richter und in mehreren Beschwerden3 die Formulierung der Anklageschrift als von der Absicht getragen „einen rein auf Annahmen und einseitiger politischer Betrachtungsweise basierenden Terrorbezug herbei zu konstruieren.“ Die BeobachterInnen des Prozesses kritisierten zudem den autoritären, herablassenden und diskriminierenden Verhandlungsstil von Richter und Staatsanwalt.4 In der Berufung gegen das Urteil wurde M. von der Verhetzung freigesprochen.5. Das Berufungsgericht anerkannte Kontext und Ursache der Demonstration, nämlich die unverhältnismäßige militärische Brutalität des israelischen Militärs bei der dritten Bombardierung von Gaza.
Die politisch absolut einseitige Betrachtungsweise am Straflandesgericht findet nun wohl ihre Fortsetzung in der in Vorbereitung befindlichen Anklage gegen angebliche Mitglieder der Muslimbruderschaft. Auch dieses Mal beruft sich Staatswanwalt Winklhofer auf wikipedia-Einträge, bedient sich aber auch einschlägiger Studienautoren, wie Lorenzo Vidino. In einem Factsheet der Georgetown-Universität heißt es über dessen Theorien, dass sie mittels eines antiislamischen Bloggers in das Manifest des Rechtsterroristen Anders Breivik Eingang gefunden haben.
Wir hoffen, dass die Justiz und die VolksvertreterInnen jede Tendenz, die in Richtung Gesinnungsjustiz auszugreifen droht, genau beobachtet und den Anfängen zu wehren weiß.
Die StFp, Dezember 2020
1 http://www.friedensplattform.at/?p=4775
2 Anders als bei den Einträgen zu naturwissenschaftlichen und technischen Begriffen ist die deutsche Ausgabe von wikipedia bei der Darstellung verschiedener weltanschaulich und zeithistorisch aktuell relevanten Einträge in den letzten Jahren wiederholt in eine gut begründete Kritik geraten. Einer dieser Vorwürfe einer tendenziellen Darstellung betrifft den Palästina-Konflikt, wo ihm eine proisraelische Haltung nachgewiesen wurde, siehe etwa die
„Affäre Feliks“ in https://www.heise.de/tp/features/Wikipedia-an-der-Propagandafront-gegen-Historiker-4167075.html?seite=all
3 http://www.friedensplattform.at/wp-content/uploads/2018/09/Beschwerde-Staatsanwalt-Gaza-2014-oA.pdf
4 Fußnote 1 und http://www.friedensplattform.at/?p=4747
5 http://www.friedensplattform.at/?p=4902
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